Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Karl Dilthey, Freiburg i. Br., 3.8.1878, 4 S., hs. (dt. Schrift), Niedersächsische Staats- und UB Göttingen, Dilth. 141
- Creator
- Recipient
- Participants
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationNiedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen
- URN
- Social MediaShare
- Archive
- ▼
Windelband an Karl Dilthey, Freiburg i. Br., 3.8.1878, 4 S., hs. (dt. Schrift), Niedersächsische Staats- und UB Göttingen, Dilth. 141
Freiburg i B. 3 Aug[ust] 1878
Lieber Carlo,
Wie ich höre, geht Euer Göttinger Semester mit bekanntem hofräthlichem Eifer erst in den nächsten Wochen zu Ende, während wir schon gestern den glücklichen Strich unter unsre Hefte gemacht haben. Ich war diesmal froher denn je darüber. Denn ich hatte mit zwei Vorlesungen[1] herzlich viel zu thun und cumulirte diese Thätigkeit durch das etwas forcirte Arbeiten an dem ersten Bande meiner „Geschichte der neueren Philosophie“[2] (in toto zwei Bände, dieser erste Renaissance bis Kant), an dessen Ende ich nun freilich glücklicherweise stehe und den Du hoffentlich zu Michaelis[3] gedruckt sehen wirst. Ich hoffe eine Behandlung des Stoffes gefunden zu haben, wie sie unserer Literatur bisher fehlte: nämlich diejenige einer vollkommenen kritischen Verarbeitung, wodurch der Verlauf der einzelnen Gedankengänge in der neueren Philosophie klarer werden soll, als er es bei der entweder excerpirenden oder „congenial“ reproducirenden Darstellungsweise bisher gelungen ist. Den Schwerpunct habe ich dabei auf die Untersuchung der Abhängigkeit gelegt, in der sich die Entwickelung der Philosophie von derjenigen der besonderen Wissenschaften, in diesem Falle theils der Geschichte, theils der Naturwissenschaft befindet. Ich bin begierig, was Du zu der ganzen Sache sagen wirst.
Du darfst mich einigermaßen verwundert fragen, | wo denn dabei meine Psychologie bleibt. Im Kasten[4], ist leider die einzige Antwort, die ich darauf habe. Wie ich Dir schon um Ostern sagte[5], schreitet sie sehr langsam fort. Und das hauptsächlich aus Einem Grunde. Es kommt mir in erster Linie auf methodologische Grundlegung und dabei hauptsächlich eine gründliche Auseinandersetzung mit der Physiologie an. Meine Züricher Antrittsrede deutete schon darauf hin. Wir kommen, wie die Sachen liegen, zu keiner selbständigen Psychologie, ehe wir nicht festgestellt und ganz reinlich bestimmt haben, was wir von der Physiologie brauchen und wo für uns ihre Grenzen sind. Im Princip bin ich mir darüber klar: für die besondere Durchführung bedurfte ich der tactischen Flankendeckung halber eines Eindringens in die Nervenphysiologie und ihre Literatur, zu dem meine bisherigen Kenntnisse nicht ausreichten. So blieb mir nichts übrig, als noch einmal[6] bei der Physiologie in die Schule zu gehen, was ich dann auch in diesem Sommer endlich gethan habe. Und doch bin ich noch zweifelhaft, ob es ausreicht, schon in diesen Ferien das Facit zu ziehen. Versuchen will ich’s.
Verzeih, daß ich zunächst in ein Geplauder von meinen Arbeiten hineingerathen bin. Aber es ich auch nicht viel Anderes von mir, von uns zu berichten. Zum Glück; denn wie gewöhnlich bedeutet das auch hier, daß es uns gut geht. Meine Frau und die Kinder sind wohl. | Die Entwicklung der letzteren verläuft normal und sehr zu meiner, unserer Freude. Es existirt zwischen beiden Kindern schon eine Art Gegenseitigkeit und Gemeinsamkeit der Vorstellungen und ihres unvollkommenen Sprachausdrucks, deren Beobachtung namentlich der köstlichen Oekonomie des kindlichen Geistes wegen höchst erfreulich ist. Doch kann man auch darauf leider keine Psychologie gründen.
Daß es uns im Uebrigen hier gefällt, magst Du aus meiner Ablehnung des Erlanger Rufes[7] entnehmen. Die Verlockung war freilich nicht groß. Die Universität kleiner, als die hiesige jetzt; jene im Niedergang, unsre zweifellos im Aufgang; selbst die Wirksamkeit für mich dort kaum ausgebreiteter als hier. Daneben wirkte der Tausch protestantischer für katholische Orthe dazu auf mich auch nicht eben anziehend. Zwar sitzen wir jetzt, wie die neuen Wahlen[8] bewiesen haben, rettungslos im Ultramontanismus. Aber er ist nicht mehr fanatisch, und wer weiß, was nach dem „Frieden von Kissingen“[9] (beinahe Anagramm von Canossa[10]!) bevorsteht! Es kam hinzu, daß die Regierung sehr liebenswürdige und klingende Anstrengungen machte; mit denen Baiern schließlich auch nicht hätte wetteifern können: und so habe ich nach achttägigen Verhandlungen abgelehnt.
Da werden wir nun also wohl für einige Jahre hier die Zeltpflöcke etwas fester klopfen können. Wir sind’s zufrieden. Das Klima ist schön und bekommt uns | gut. Das collegialische Klima nicht minder. Das letztere ist theilweise fast zu milde. Die Leichtigkeit, mit der sich hier alle Fragen abspielen und Alles, was einer Differenz auch nur von Ferne ähnlich sieht, seine Spitze sogleich verliert, wirkt nach der scharfen Züricher Luft fast erschlaffend. Es ist ein Capua[11] und ich fürchte, die Haare auf den Zähnen werden einem verdorren. Was mir zwischen all der Liebenswürdigkeit fehlt, ist nur – ein Mensch, ein Mensch wie Du, mit dem man einmal ein Stückchen in die Tiefe wühlen kann.
Ich bemerke daher für Leute, welche wieder Sehnsucht nach der Schweiz haben, daß wir, obwohl nunmehr voraussichtlich für länger hier ansässig, noch immer am Bahnhof[12] wohnen!! Daneben aber, daß ich wohl nicht sehr wünschte, von Dir und Deinem Ergehen, wenn’s persönlich nicht sein soll, brieflich wieder Etwas zu erfahren. Daß Du leider noch nicht sehr zufrieden bist, theilte mir Schöll in Baden[13] mit. Hoffentlich bahnt sich dort selbst – oder anders wo? – Besseres an!! Aber wie’s auch sei – ein Lebenszeichen gieb mir nächstens wieder! Für heut meiner Frau beste Grüße und von mir den Wunsch erfreulichsten Wohlergehens!
Dein treuer
W Windelband
NB. Die Ferien bleiben wir in summa hier. Vielleicht gehe ich selbst einige Tage oder Wochen in die Schweiz[14], falls ich finden sollte, daß hier meinen Nerven, die sehr herunter sind, die hiesige Ferienruhe nicht genügte!
Kommentar der Herausgeber
2↑„Geschichte der neueren Philosophie“ ] Windelband: Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Cultur und den besonderen Wissenschaften. 1. Bd.: Von der Renaissance bis Kant. Leipzig: Breitkopf u. Härtel 1878.4↑Im Kasten ] von den 20 Heften und Notizbüchern Windelbands, die sich seit 1926 im Besitz der Bibliothek der Tohoku Universität Sendai, Japan befinden, befassen sich insgesamt 6 mit dem Thema Psychologie (in der Reihenfolge ihrer Zusammengehörigkeit: Nr. 8, 12, 16 u. 11; Heft Nr. 1 u. 10 enthalten Gliederungsentwürfe). In welcher genauen Beziehung diese Notate zu Windelbands geplanter Monographie stehen, ist ungeklärt (vgl. Horst Gundlach: Wilhelm Windelband und die Psychologie. Heidelberg: University Publishing 2017; Gundlach geht jedoch nur von der Kenntnis der Hefte Nr. 1, 8 u. 10 aus). Die überlieferten Hefte arbeiten neben einer Einleitung einen ersten methodologischen und wissenschaftstheoretischen Teil aus. Windelband hat keine Monographie über Psychologie veröffentlicht und das Thema nach seiner Züricher Antrittsvorlesung von 1876 (Über den gegenwärtigen Stand der psychologischen Forschung) erst wieder in einer Akademierede von 1914 aufgeriffen: Die Hypothese des Unbewußten. Heidelberg: C. Winter 1914 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. 4. Abhandlung 1914).5↑um Ostern sagte ] 21.4./22.4.1878, vgl. zu den Fertigstellungsplänen Windelband an Georg Jellinek vom 28.12.1877.9↑„Frieden von Kissingen“ ] gemeint ist das Treffen Bismarcks und des Apostolischen Nuntius in Bad Kissingen Juli/August 1878, auf dem Höhepunkt des Kulturkampfs; es ging darum, wieder diplomatische Beziehungen aufzunehmen.12↑am Bahnhof ] Windelband wohnte in Freiburg zunächst Eisenbahnstr. 66, vgl. Windelband an Georg Jellinek vom 28.12.1877.13↑Schöll in Baden ] eine Teilnahme Windelbands an der für den 23.6.1878 angesetzten Zusammenkunft der Professoren der Universitäten Freiburg, Heidelberg, Straßburg, Tübingen (Basel) in Baden-Baden ist zwar nicht belegt, aber nach dem hier Gesagten wahrscheinlich (vgl. die Akte ADBR Strasbourg, 103 AL 1422). Die Rede ist vermutlich von dem Klassischen Philologen Rudolf Schöll (1844–1893), seit 1875 in Straßburg (NDB).▲