Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Karl Dilthey, Freiburg i. Br., 8.8.1877, 4 S., hs. (dt. Schrift), Niedersächsische Staats- und UB Göttingen, Dilth. 141
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- Physical LocationNiedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen
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Windelband an Karl Dilthey, Freiburg i. Br., 8.8.1877, 4 S., hs. (dt. Schrift), Niedersächsische Staats- und UB Göttingen, Dilth. 141
Freiburg. 8.VIII.77
Lieber Carlo,
Es begreift sich, daß Du aus so lang gewohntem Boden Deine Wurzeln nur schwer und langsam ziehen kannst und sich so Dein Wegzug[1] etwas verzögert. Daß Du ihn gegen Ende dieses Monats ansetzest, ist mir sehr recht. Es ist nicht unmöglich, daß ich Mitte nächster Woche meine Tante[2] Etwas nach Norddeutschland hinein begleite; aber jedenfalls bin ich am 23 od[er] 24. d[es] M[onats] wieder hier, und wenn Du dann hier einträfst, wäre es gerade Jahreszeit und hoffentlich auch Wetter, einige Tage durch unsre prächtigen Wälder und auf unsre runden, gefälligen Bergkuppen zu bummeln. Vorher wird sich so wohl Nichts mehr einrichten; sollte ich frei sein, so schreibe ich es Dir; aber es scheint mir am gerathensten, wir verbinden nun Alles; falls Du nicht es vorziehst, noch für diesen Sonntag Frankenhäusers zu einer gemeinsamen Spritze hierher zu verleiten, was ich Dir recht an’s Herz lege. | Für Ende des Monats könnte etwa der Gedanke in’s Auge gefaßt werden, daß ich Dir bis Waldshut entgegenkäme und wir von da über St. Blasien, Höchenschwand, Belchen, Feldberg, Höllenthal resp. Schauinsland hierher wanderten. Doch darüber später.
Mit meiner Umzugsgeschichte bin ich sehr zufrieden gewesen. Der eigentliche Unternehmer heißt Gerhard Krämer, Möbeltransportant, Mannheim. Er war jedoch bei mir nicht selbst, da er einen andern Umzug gleichzeitig besorgte, sondern schickte seinen „ersten Gehilfen“. Dieser war vorzüglich. Es stellte sich heraus, daß der Krämer seinerseits wieder mit diesem Gehilfen einen Vertrag abgeschlossen hatte, wonach dieser den Umzug für ein Gewisses übernahm und für Alles haftete. Er hat bezahlt, was er entzwei machte; das war aber verschwindend wenig. Da ist es nun natürlich einfacher und billiger, mit diesem ganz unabhängigen „Gehilfen“ Dienst zu accordiren, da natürlich der Krämer auch noch wieder ein be|deutendes Plus an den Kosten für sich rechnet. Zumal, da Du ihn doch nicht bis Göttingen wirst mitreisen lassen und somit keine Haft verlangen kannst, welche sonst bei einem solchen „Gehilfen“ seiner eventuellen Zahlungsunfähigkeit halber illusorisch sein könnte. Selbiger Gehilfe nun heißt Peter Menger, Dienstmann, Mannheim. ich würde Dir rathen, gleich mit ihm zu verhandeln und mit ihm Kontract zu machen!! Empfehlen kann ich ihn sehr. – Zum Auspacken empfehle ich Dir in Göttingen, falls er noch da sein sollte, einen von mir als ganz vorzüglich zuverlässig erfundenen[a] Stiefelfuchs[3] namens Müller.
Den Semesterschluß habe ich durch meine Antrittsvorlesung: „Ueber den Einfluß des Willens auf das Denken“[4] höchst feierlich begangen.
Hense[5] läßt mit Empfehlungen fragen, wer Dein Nachfolger[6] wird; auch mich wird das sehr interessiren.
Die Frankf[urter] Zeitung, welche bekanntlich, so viel | ich mich entsinne, an Gustav Vogt[7]’schen Inspirationen leidet, bringt die wahrhaft erhebende Meldung, daß Bern und Zürich sich zur Zeit um die Ehre streiten, Dühring den Ihren[8] zu nennen. Welch edler Wettstreit! Und so weit ist es also wieder mit dem bösen, bösen „Reich“ gekommen, daß das biedre Hirtenvolk abermals zur Zuflucht der „Märtyrer“ und zum Bollwerk der „freien Wissenschaft“ wird! – Wer lacht da?[9] – Ist etwas Wahres daran, und wie weit ist es damit? Will man ihn als Philosophen, als Nationalökonomen, als Mechaniker, oder soll nur im Allgemeinen ein Lehrstuhl für Freies Schimpfen und für socialdemokratische Jugendbildung errichtet werden? Ich gratulire! Und Habermann[10]? Da möchte die Wittib[11] mitsamt dem neuen Rufe am Platze sein!
Verzeih, daß ich so zerstreut und[b] abgerissen schreibe; ich bin etwas müde; aber Du solltest nicht länger wegen der Packer warten. Grüße Frankenhäusers und Dich von uns beiden, und kommt möglichst zusammen!
Dein Wd
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
4↑„Ueber den Einfluß des Willens auf das Denken“ ] der Titel von Windelbands Rede lautet weiter: Eine Antrittsvorlesung [Universität Freiburg]. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 2 (1878), S. 265–297.5↑Hense ] Otto Hense, Klassischer Philologe, geb. 1845, seit 1876 Prof. an der Universität Freiburg (Wer ist’s? (1912), S. 636).6↑Nachfolger ] Hugo Blümner (1844–1919), Prof. für Klassische Philologie und Archäologie an der Universität Zürich ab 1877 (vgl. die Vorlesungsverzeichnisse http://www.histvv.uzh.ch/vv/).7↑Gustav Vogt ] es ist nicht sicher, ob der gleichnamige Rektor der Universität Zürich gemeint ist, in Frage kommt auch Johannes Gustav Vogt, der Verfasser von Die Kraft (1878).8↑Dühring den Ihren ] im Zusammenhang des Amtsenthebungsverfahrens der Berliner Universität gegen Eugen Dühring (1833–1921; BEdPh) im Juli 1877 hatte sich ein Unterstützungskomitee für Dühring gegründet, daß u. a. in und mittels der Frankfurter Zeitung agitierte. Dühring hatte verfaßt: Kritische Geschichte der Philosophie von ihren Anfängen bis zur Gegenwart (1869), Kritische Geschichte der Nationalökonomie und des Socialismus von ihren Anfängen bis zur Gegenwart (1871), Kritische Geschichte der allgemeinen Principien der Mechanik (1872). Auf diese Titel spielt Windelband im Folgenden an.10↑Habermann ] im Sinne von Hafermann, d. i. die deutsche Form des latinisierten Namens Avenarius; hier Anspielung auf Windelbands Nachfolger in Zürich, Richard Avenarius (1843–1896).▲