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- TitleWindelband an Georg Jellinek, Leipzig, 30.12.1875, 4 S., hs. (dt. Schrift), Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Georg Jellinek, N 1136/56
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- Physical LocationBundesarchiv Koblenz
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Windelband an Georg Jellinek, Leipzig, 30.12.1875, 4 S., hs. (dt. Schrift), Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Georg Jellinek, N 1136/56
Leipzig 30 XII 75.
Mein liebster Freund!
Nun sage mir um aller Heiligen willen! was treibst Du – wie geht es Dir –welch’ ein Gott beherrscht Deine Seele, daß Du den Sterblichen entrückt bist? Seit Du des Geburtstags meiner Frau so freundlich gedachtest und ich Dir darauf im Drangsal ihrer Krankheit[1] nur kurze Nachricht sandte, bist Du mir verschollen, und auch von Tüngel[2], der vor ca. 14 Tagen hier nach Hamburg durchreiste, hörte ich nur, das Du, viel beschäftigt, nach dem wissenschaftlichen otium cum dignitate[3] tiefe Sehnsucht empfindest. Aber ich will deshalb das Jahr nicht zu Ende gehen lassen, ohne Dich energisch wieder an mich erinnert zu haben, und in ferienhafter Plauderstimmung lege ich Dir daher die Buße auf, diesen[a] ganzen Brief als Neujahrsgruß hinunter schlucken zu müssen. Ja, um Dir ein Vorbild für eine ähnliche Orientirung über Dein Jahr 1875 zu geben, muß ich beinah chronikhaft verfahren. Mein Leben in diesem Jahr glich der neusten physikalischen Erfindung – der so beliebten Lichtmühle[4]: es hatte immer nur geradeso viel Bewegung als ihm von außen Licht zugeführt wurde. Drum war es so wechselnd, | bald viel Licht, und bald viel Schatten. ich weiß nicht, aus welcher Zeit der dunklen Monate ich damals an Dich schrieb, und drum erzähl’ ich von Anfang. Den März über lebte ich nur von den schwachen Hoffnungsstrahlen, die am Krankenbette aufstrahlten; den April über lichtete sich unser Horizont, meine Frau stand zu Ende des Monats wieder auf, und Mai und Juni brachten uns langsam sichere Genesung, – die holdeste Freude, die mir bisher das Leben gewährt. So das geliebteste Wesen allmählich wieder zu voller Frische und Lebenslust emporblicken zu sehen, – das ist volles, unendliches Glück. Um so schwerer wurde es mir, für den Juli mich von ihr zu trennen; aber Leipzig ist die Hölle für Reconvalescenten, und so bracht’ ich sie für den Juli nach Weimar, wo sie mitten im Park reizend wohnte und von einer mitgereisten Tante[5] wie von meinem dort hausenden Malerschwager[6] bestens unterhalten war; ich pflegte von Freitag Mittag bis Sonntag Abend dazusein. August und September haben wir dann in Misdroy[7], die erste Hälfte des October, durch ein kleines Unwohlsein auf der Rückreise aufgehalten, in Potsdam zugebracht; und seitdem sind wir nun wieder hier, in glücklicher Einsamkeit, still zurückgezogen von | fast allem Verkehr. Denn wie prächtig sich meine Frau wieder erholt, wie völlig sie alle Reste der bösen Krankheit abgeschüttelt hat, siehst Du daraus, daß der Stern über unserm Leben jetzt sehr hell leuchtet und wir zum Frühjahr „das Glück[b] dieses Daseins zu perpetuiren“[8] hoffen dürfen.
Daß ich in solchen Geschicken wissenschaftlich aus der Hand in den Mund gelebt und für meine Unsterblichkeit noch Nichts weiter gethan habe, mag Dir erklärlich erscheinen! Meine Methodengeschichte[9] soll aber trotzdem nun mit dem neuen Jahr in den Druck; ich muß[c] publiciren. Verschiedene berühmte Universitäten[10], wie Basel, Königsberg[11] und auch wohl andere werfen schon liebäugelnde Blicke auf mich, fanden aber schließlich, daß man einen Manne ohne „Buch“ ebenso wenig fest an sich binden darf, wie ein Mädchen einen Mann ohne „Geld“. Was den Fortgang meiner hiesigen Thätigkeit betrifft, so liest es sich so sacht weiter; ich bin immer noch nicht populärer im Vortrag geworden, und mehr als 16–20 fürs Privatum haben dabei noch nicht ihre Rechnung gefunden. Aber ich fühle Adern in mir, aus denen einmal die Fluth activer und[d] passiver Popularität hoch aufspritzen könnte! In meinen ganzen inneren Organismus liegen diese Adern auf der Schatten|seite, und die Herzkammer, aus der sie vollgepumpt werden, heißt die Ironie oder der Hochmuth.
Es ist der Nachtheil seltenen Schreibens, daß man viel fragen und erzählen muß. Alle Fragen, die Dich selbst angehen, fasse ich in die Eine zusammen: wann schreibst Du mir wieder? Aber sage mir auch, was Ehrenberg treibt, wie’s ihm geht. Er schrieb mir im Frühjahr aus San Remo; ich hatte damals keine Minute Zeit, und als ich ihm hätte schreiben können, fürchtete ich ihn nicht mehr dort zu erreichen. Wo lebt er, wie geht es ihm? Dann hast Du mir auch noch garnichts geschrieben, wie Dir Knapp’s Verlobung[12] behagt, wie Dir die damals zugesandte Photographie gefällt. Er ist im Herbst, als er heiraten wollte, von schwerem Typhus heimgesucht worden, und hat, obwohl im Allgemeinen genesen, doch noch nicht heiraten können. Hier haben inzwischen Vondermühle und Nitsche geheiratet, Heubner [un]d Blaß[13] (!) sich verlobt, und so steht Zirkel, ein entlaubter Stamm, am einsamen Tische. – Von Höchberg[14] habe ich eine sehr ansprechende Abhandlung über „Philosophie [un]d Moral“ zugeschickt bekommen.
Und nun sei’s für heute genug des grausamen Spiels, da wahrhaftig meine Schrift fast noch schlechter geworden ist, als früher. Meine Frau läßt Dich bestens grüßen; ich bitte, mich den verehrten Deinen zu empfehlen. Und damit leb’ wohl! und schreib bald!
In alter Freundschaft Dein
W Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
4↑Lichtmühle ] physikalische Apparatur in einer evakuierten Glaskugel: vier sich um eine Achse drehende, einander gegenüber angebrachte Glimmerplättchen; Drehbewegung beginnt bei Lichteinfall. Erfunden 1873 von dem Physiker William Crookes (1832–1919).6↑Malerschwager ] Fritz Wichgraf (1853–1939), Bildnis- und Genremaler in Berlin (WBIS) sowie Südafrika, vgl. Windelband an Ulrich und Elly Stutz vom 16.6.1900.8↑„das Glück dieses Daseins zu perpetuiren“ ] als Zitat nicht nachgewiesen. Der Kontext der Anspielung ist die bevorstehende Geburt von Windelbands Tochter Dora (* 19.3.1876).9↑Methodengeschichte ] die nächste Monographie von Windelband war: Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Cultur und den besonderen Wissenschaften. 1. Bd.: Von der Renaissance bis Kant. Leipzig: Breitkopf u. Härtel 1878.10↑Verschiedene berühmte Universitäten ] vgl. UA Freiburg, B1/1259 Lehrstühle der Philosophischen Fakultät: Der Lehrstuhlinhaber Jakob Sengler (1799–1878, seit Herbst 1842 an der Universität Freiburg; ADB) hatte seit mindestens Sommer 1870 gesundheitliche Probleme. Am 5.11.1874 ergeht ein Antrag auf Einrichtung eines Extraordinariates (Privatdozent Dr. Julius Walter aus Jena vorgeschlagen), der durch das Ministerium des Inneren am 18.11.1874 wegen fehlenden Budgets abgelehnt wird. Ein erneuter Antrag ergeht am 20.1.1875. Das Ministerium des Inneren verlangt vom Senat am 27.1.1875 eine ausführliche Begründung, die Philosophische Fakultät arbeitet am 27.2.1875 zu: Da nun pp. [praemissis praemittendis, lat.: der gebührende Titel sei vorausgeschickt] Walter inzwischen an die Universität Königsberg berufen ist, so gestatten wir uns, an seiner Stelle auf Grund eines ebenfalls einstimmig gefaßten Fakultätsbeschlusses den Privatdocenten Dr. Windelband in Leipzig in Vorschlag zu bringen. Derselbe ist nach den von den verschiedensten Seiten diesseits eingeholten Gutachten ein zu ganz hervorragenden Hoffnungen berechtigender junger Gelehrter, dessen Untersuchungen: über den Zufall und über die Gewißheit der Erkenntniß – anerkannt großen Scharfsinn und ein sehr tüchtiges kritisches Urtheil verrathen und dessen Vorlesungen und Übungen bei den Leipziger Studirenden trotz der großen Zahl tüchtiger anderer Philosophen dortselbst sehr beliebt und geschätzt sind. pp. Windelband war übrigens neben Walter auch schon für Königsberg in Vorschlag gebracht und zwar in gleicher Linie mit diesem. Für den Fall, daß Windelband nicht zu gewinnen sein sollte, hat die Mehrheit der Facultät ferner beschlossen: den Privatdocenten Dr. Class in Tübingen für die gedachte Stelle vorzuschlagen. Zeitgleich war Windelband in Zürich vorgeschlagen und nahm schließlich den dortigen Ruf an.11↑Königsberg ] vgl. UA Freiburg, B 38/119 Beilagen zu den Protokollverhandlungen des Dekans Hermann von Holst 1876–1877: Julius Walter an Unbekannt (Hermann von Holst?), Auszug: Königsberg, den 1. Febr[uar] 76. Sehr geehrter Herr College! […] Handelt es sich darum in dem zu wählenden Extraordinarius zugleich einen Nachfolger für Sengler zu beschaffen, so würden meines Erachtens gegenwärtig Prof. [Paul Robert] Schuster in Leipzig, Windelband ebendaselbst und vielleicht Asmus in Frage kommen. Der reifeste und tüchtigste von diesen ist jedenfalls Schuster. […] Windelband kenne ich auch persönlich und kann ihn auch nur empfehlen. Er ist zwar eine weniger durchgebildete und reife Natur, aber verfügt über geistige Beweglichkeit, Gewandheit im Dociren und ist, worauf ich immer am meisten Gewicht lege, in seinem Denken selbständig. Er war hier mit mir zugleich vorgest[ellt.] Sowie in derselben Akte: Rudolf Eucken an Unbekannt (Hermann von Holst?), Auszug: Jena 22/9 75 Lieber Freund! […] Daß Sie in Freiburg an der Absicht, Philosophen zu berufen, festhalten, ist ganz recht, Auswahl haben Sie dabei in hinreichender Fülle. An erster Stelle möchte ich Sie auf den Privatdocenten Dr. Windelband in Leipzig aufmerksam machen, der zwei sehr tüchtige Arbeiten (über den Zufall und über die Gewißheit der Erkenntniß) herausgegeben hat und auch als Docent gerühmt wird. Er war in Königsberg mit Walter zugleich vorgeschlagen. Persönlich kenne ich ihn nur ganz flüchtig, erhielt aber einen recht günstigen Eindruck. Näheres werden Sie ja am besten durch Ihren Herrn Bruder in Leipzig erfahren können. Eucken empfiehlt an 2. Stelle Gustav Class und schreibt weiter: Windelband ist ein sehr klarer und exacter, Claß ein mehr in die Tiefe dringender Kopf, beide wären ein Gewinn für jede Universität. An 3. Stelle ist von Paul Asmus (1842–1877, 1862–1865 Studium in Leipzig, Erlangen, Berlin und Halle, Tätigkeit als Hauslehrer, 1869 Prüfung pro facultate docendi und Anstellung an der Realschule des Waisenhauses der Franckeschen Stiftungen Halle, 1871 Promotion u. Habilitation in Halle für Philosophie; WBIS) in Halle die Rede. Vgl. auch Otto Stobbe (Universität Leipzig) an Ludwig Friedländer (Universität Königsberg, dort 1875 Rektor) vom 7.5.1875 (Auszug): Lieber Freund! Zunächst lassen Sie mich dieser Epistel voranschicken, daß sie weder in direkter noch indirekter Veranlassung des Mannes geschrieben ist, von dem sie handelt, sondern, daß ich lediglich dabei von persönlichem Interesse für den betreffenden Mann u[nd] von Anhänglichkeit an die Albertina [die Universität Königsberg] geleitet werde. Sie verlieren, wie Sie wohl wissen, den eben erst gewonnenen philos[ophischen] Collegen [Max] Heinze, der zum Herbst wieder nach Leipzig zurückkehrt. Ob Heinze der Mann ist, der gerade geeignet ist, einen der ersten philos[ophischen] Lehrstühle in Deutschland einzunehmen, weiß ich nicht u[nd] geht mich eigentlich auch nichts an; ich hatte gehofft, wir würden Dilthey erhalten. Durch seinen Abgang wird die Fakultät in Verlegenheit kommen, wen sie jetzt vorschlagen soll. Da erlaube ich mir Ihre Aufmerksamkeit auf unsern Privatdocenten Windelband (ein furchtbarer Mann) [so wörtlich! gemeint: fruchtbarer?] zu lenken, der seit zwei Jahren bei uns mit entschiedenem Erfolg docirt, ein gescheidter u[nd] liebenswürdiger Mensch ist u[nd] auch sehr hübsche kleinere Arbeiten geleistet haben soll (z. B. über den Zufall). Ich hätte diese Bemerkung an Rosenkranz geschickt, wenn ich nicht befürchtete, daß wegen seiner Blindheit die Notiz vielleicht an den unrechten Mann käme. Übrigens bin ich auch der Überzeugung, daß Heinze über Windelband nur günstiges wird sagen können (Hessisches Staatsarchiv Marburg, 340 Dehio A 84, mit Dank an Helmut Klingelhöfer).13↑Vondermühle und Nitsche geheiratet, Heubner und Blaß … Zirkel ] zur Identifikation der Namen vgl. Windelband an Georg Jellinek vom 17.7.1875▲