Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Georg Jellinek, Leipzig, 17.7.1875, 4 S., hs. (dt. Schrift), am Briefkopf gedrucktes Signet: zwei ineinandergeschlungene W-Versalien in einem von einem geschlossenen Gürtel gebildeten Ring, darüber eine fünfzackige Krone, Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Georg Jellinek, N 1136/56
- Creator
- Recipient
- ParticipantsClemens Brentano ; Emil Tüngel ; Ferdinand Albert Thierfelder ; Ferdinand Zirkel ; Friedrich Ritschl ; Friedrich Wilhelm Blass ; Georg Friedrich Knapp ; Georg Jellinek ; Heinrich Jordan ; Hinrich Nitsche ; Immanuel Kant ; Karl von Bardeleben ; Karl von der Mühll ; Lydia von Karganoff ; Oscar Ferdinand Peschel ; Otto Heubner ; Peschel, Frl. ; Susanna Rubinstein ; Victor Ehrenberg ; Wilhelm His
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationBundesarchiv Koblenz
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Windelband an Georg Jellinek, Leipzig, 17.7.1875, 4 S., hs. (dt. Schrift), am Briefkopf gedrucktes Signet: zwei ineinandergeschlungene W-Versalien in einem von einem geschlossenen Gürtel gebildeten Ring, darüber eine fünfzackige Krone, Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Georg Jellinek, N 1136/56
Leipzig 17 Juli 75
Mein lieber Freund
Du weißt selbst, wie herzlich mich Deine Glückwünsche und Deine Theilnahme an unserm Geschick erfreut haben, und Du wirst verziehen haben, wenn die Arbeitslast, welche nach den total arbeitslos verbrachten Ferien, doppelt schwer in diesem Semester auf mir liegt, verbunden mit der schönen Pflicht, meine freie Zeit der genesenden Frau zu widmen, mich so lange vom Schreiben zurückgehalten hat. Ja, es war eine schwere Wolke, die über dem Himmel unseres Glückes dahinzog. ich weiß es nun, was es heißt, zu bangen, wochenlang zu bangen für das Theuerste, was es geben kann, und mit thatlosen Händen am Abgrund der Verzweiflung zu stehen. Aber er hat sich geschlossen, und es gilt, den Riß mit Blumen zu kränzen und nur noch in Erinnerung zu behalten, daß ich für das liebste Wesen habe sorgen, sie pflegen dürfen, und des Lächelns, des schwachen, köstlichen Lächelns zu gedenken, mit dem sie manchmal aus schweren Schmerzen zu mir aufblickte – alles Leben zusammenraffend in diesen Augen, die meine Sterne sind. Und so freu’ ich mich denn jetzt auch nur der stetig fortschreitenden Genesung und begrüße Woche für Woche mit innigem Jubel neue Fortschritte. Wir fahren nun schon aus, gehen | auch schon im Rosenthal oder auf der Linie[1] ein Stündchen zusammen durch den frischen Wald, und mit der alten Farbe und der alten Gestalt kehrt meiner Frau auch der alte Muth, die Frische und die volle Lebendigkeit der Seele wieder. Da ich aber doch erst im August von hier fortgehen kann, so werden wir uns für den Juli trennen müssen, dessen Beschwerlichkeiten ich ihr hier nicht zumuthen kann: dieweilen aber außer dem Arzt auch der Psychologe, nämlich ich, die allzugroße Entfernung widerrieth und wenigstens die Möglichkeit, wöchentlich einige Tage zusammenzusein, offen gehalten wissen wollte, und die nahe gelegenen Karlbäder[2] zu sonnig und lärmig sind, für meine Frau auch es sich wesentlich um Ruhe und bequemen schattigen Spaziergang handelt, so habe ich inmitten im Park von Weimar in einem Badehause eine reizende Wohnung für sie gemiethet, wo sie Bäder, Pension, alles im Hause und rauschende, schattende Bäume und die murmelnde Ilm unmittelbar vor sich hat, und wohin ich sie über acht Tage übersiedeln werde. ich selbst falle natürlich während der Zeit der Hahn’schen Tischgenossenschaft[3] anheim, die freilich sehr gelichtet ist. Außer Knapp’s Abgang[4] hat auch Nitzsche’s[5] Verlobung mit Fräulein Peschel[6], sowie Vondermühlt’s[7] Verheirathung mit der gleichnamigen Nichte von His[8] große Lücken gerissen, der Skat ist aufgeflogen, und Zirkel[9], Heubner[10], Blaß[11] und[a] Thierfelder[12], verstärkt durch den Dr. Rolf[13] bilden den schwachen Stamm. Daß aber die Heiratsepidemie unter der Tafelrunde allgemein ausgebrochen, | sieht man am besten aus dem Ereigniß, das Dir nun wohl auch schon mitgetheilt ist – Knapp’s Verlobung mit Frl. Karganoff[14], unserer Genossin in der Erkenntnistheorie. ich gestehe doch, daß ich nach allen Präcedentien erstaunt gewesen bin: denn je mehr K[napp] damals von ihr sprach, um so weniger dachte ich an diese Möglichkeit, deren Verwirklichung sich nun in aller Stille vollzogen hat: mögen die Götter mit ihm sein! Uebrigens hatte ich in diesem Semester abermals das Vergnügen einer weiblichen Zuhörerin haben können, der Frl. Susanna Rubinstein[15], Dr. philos., welche ein prekäres Buch über „sensitive [un]d sensorielle Sinne“ geschrieben haben soll, die ich aber doch lieber aus der Gesellschaft einer Anzahl jüngerer, mir unbekannter Studenten verbannte. Die Psychologie, welche diese hören wollte, und wozu ich meine „Grundfragen“ aus dem vorigen Semester[16] ausgedehnt habe, ist leidlich besucht, 16 belegende; dagegen möchte ich Dir einmal zum Spaß den Belegbogen meiner Geschichte der Erkenntnißtheorie seit Kant zeigen, auf welchem außer Deutschen noch Engländer, Amerikaner, Schweizer, Schweden, Griechen und selbst ein Hindu! vertreten sind – ein vollständig internationales Auditorium. Du siehst, auch da treibe ich, was ich vorigen Sommer auslassen mußte, und so lebe ich jetzt wesentlich von den Brosamen der Zeit, wo wir mit einander in so schönem, fruchtbaren Verkehr standen. Bei der Psychologie hab’ ich mich übrigens immer mehr von dem geringen Werthe der Brentano’schen Compilation[17] überzeugt; die meisten seiner Beweisgänge zeigen mehr „neue“ als alte Logik. |
Doch es ziemt uns nicht, dem Associationsmechanismus so allein zu folgen, wie ich es bisher in dieser Plauderei gethan habe, und indem ich mich also „darüber zu freier Selbstbestimmung“ erhebe, empfinde ich zunächst die innigste Nothwendigkeit, nach Dir und Deinem Ergehen, Du lieber Freund, mich zu erkundigen. Das Parallelogramm der Kräfte, in welchem sich jetzt Deine jugendfrische Arbeitsenergie theilt, wird hoffentlich einen so spitzen Winkel haben, daß die Componente, welche mich am meisten interessirt, recht groß geblieben ist; wenn Du aber diese nochmals theilst, so weiß ich nicht, welchem der beiden Arme, ob dem pessimistischen oder dem strafrechtlichen ich begieriger entgegensehne. Was meinen Druck[18] betrifft, so reife ich sehr langsam dazu. Das nonum in mensem[19] ist vorüber, hoffentlich wird es nicht ein annum[20].
Von Tüngel[21] habe ich jetzt lange Nichts gehört, es ist ein lästiges Semester für ihn, und diese spanischen Stiefel sind doch fast noch schlimmer als die der Logik. An Ehrenberg hab’ ich in der trüben Zeit dieses Frühjahrs nicht geschrieben, und würde Dich nun sehr um seine jetzige Adresse bitten, da ich jetzt nicht mehr nach S. Remo schreiben mag, ohne zu wissen, ob er noch da ist. Bardeleben[22], den ich auf einer kleinen Pfingstspritze[23] in Jena kurz sah, klagt über mancherlei Katarrh und Einsamkeit. Meine Frau läßt Dich bestens grüßen! – Des freudigen Ereignisses[24] in Eurer Familie und des schönen Doppelfestes hab’ ich gern gedacht: daß Du vorher Dein Theil an den Brautpaar getragen hast, glaube ich gern; wir haben auch immer unsern „Elephanten“[25] innig bedauert!
Meine spätere Adresse schick’ ich Dir noch nicht, weil ich sicher noch während des Semesters auf einen Brief von Dir rechne. Und nun noch eins: um diese Zeit, ich glaube beinah heut, ist Dein Geburtstag[26]. Verzeih, daß ich ein so treuloses Gedächtniß habe, ihn nicht sicher zu wissen. Aber Du weißt, daß die Glückwünsche, die ich Dir dazu sende, die herzlichsten sind und daß Du immer gewiß bleibst, der innigen Freundschaft Deines
W Windelband[b]
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
4↑Knapp’s Abgang ] Georg Friedrich Knapp (1842–1926), 1867 Leiter des Statitischen Amtes der Stadt Leipzig, 1869 zusätzlich Prof. an der Universität Leipzig, ging 1874 an die Universität Straßburg, dort bis 1918 (NDB).5↑Nitzsche’s ] gemeint ist vermutlich Hinrich Nitsche (1845–1902), Zoologe, 1868 Promotion in Berlin, 1871 Habilitation in Leipzig, 1875 ao. Prof. für Zoologie in Leipzig, 1876 o. Prof. für Zoologie an der Forstakademie Tharandt (Professorenkatalog der Universität Leipzig).6↑Fräulein Peschel ] nicht ermittelt; mögliches Verwandtschaftsverhältnis zu Oscar Ferdinand Peschel (1826–1875), Geograph, seit 1871 o. Prof. für Geographie in Leipzig, seit 1873 wegen Krankheit beurlaubt (Professorenkatalog der Universität Leipzig).7↑Vondermühlt’s ] gemeint ist vermutlich Karl von der Mühll (1841–1912), Physiker u. Mathematiker, 1866 Promotion in in Königsberg, 1868 Habilitation in Leipzig, 1872 ao. Prof. für Physik in Leipzig, 1889 in Basel, 1890 o. Prof. (Professorenkatalog der Universität Leipzig).9↑Zirkel ] Ferdinand Zirkel (1838–1912), Geologe, 1861 Promotion in Bonn, 1863 ao. Prof. für Mineralogie und Geologie in Lemberg, 1865 o. Prof., 1868 Prof. für Mineralogie, Geognosie und Geologie in Kiel, seit 1870 Prof. in Leipzig (Professorenkatalog der Universität Leipzig).10↑Heubner ] Otto Heubner (1843–1926), Kinderarzt, Studium in Leipzig, Prag u. Wien, 1867 Promotion in Leipzig, 1868 Habilitation, 1876 Leiter der Leipziger Distriktspoliklinik, 1887 Honorarprofessor, 1891 Lehrstuhl für Kinderheilkunde. 1894 nach Berlin berufen, dort u. a. an der Charité, 1913 emeritiert (NDB).11↑Blaß ] vermutlich Friedrich Wilhelm Blass (1843–1907), klassischer Philologe, Studium in Göttingen u. Bonn, u. a. bei Friedrich Ritschl. Gymnasiallehrer in Bielefeld, Naumburg, Magdeburg, Stettin u. Königsberg. 1874 in Königsberg habilitiert bei Heinrich Jordan. 1876 Prof. in Kiel, 1892 in Halle (NDB).12↑Thierfelder ] Ferdinand Albert Thierfelder (1842–1908), Anatom u. Pathologe, 1864–1869 Studium in Rostock u. Leipzig, 1874 Habilitation in Leipzig, 1874–1876 PD für Allgemeine Pathologie und Pathologische Anatomie an der Universität Leipzig, 1876–1908 o. Prof. für Anatomische Pathologie an der Universität Rostock, 1883/84 Rektor (Professorenkatalog der Universität Leipzig; Catalogus Professorum Rostochiensium).14↑Knapp’s Verlobung mit Frl. Karganoff ] Knapp heiratete Lydia von Karganow (1849–1925) aus Tiflis, seine ehemalige Studentin (NDB).15↑Susanna Rubinstein ] psychologische Schriftstellerin aus Czernowitz, lebte von 1847–1914, zuletzt in Heidelberg und München. 1870 Studienbeginn in Prag, ab 1873 in Leipzig, dort 1874 Promotion mit einer Schrift über Die sensoriellen und sensitiven Sinne. Leipzig: A. Edelmann o. J. [1874], die von der Kritik verrissen wurde, vgl. z. B. Jenaer Literaturzeitung 1874, Nr. 51, S. 803 (Sophie Pataky: Lexikon deutscher Frauen der Feder Bd. 2. Berlin 1898, S. 209–210).16↑„Grundfragen“ aus dem vorigen Semester ] im SS 1874 hatte Windelband u. a. eine Veranstaltung über Grundfragen der Psychologie angeboten.17↑Brentano’schen Compilation ] vgl. Franz Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkte Bd. 1. Leipzig: Duncker & Humblot 1874; darin: Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. Kapitel 5. Die vorzüglichsten Classificationsversuche § 6, S. 252–255, bes. S. 254–255 zu den sensitiven und sensoriellen Sinnen.18↑Druck ] Anspielung unklar, vgl. Windelband an Jellinek vom 30.12.1875. 1877 erschien, nach Windelbands eigener Datierung im späteren Abdruck der Präludien 1876 verfaßt: Der Pessimismus und die Wissenschaft. In: Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft 2 (1877), S. 814–821 u. S. 951–957.25↑„Elephanten“ ] vgl. Richard Riegler: Das Tier im Spiegel der Sprache. Ein Beitrag zur vergleichenden Bedeutungslehre. Dresden u. Leipzig: C. A. Koch (H. Ehlers) 1907, S. 90: Der Elefant erscheint überdies in der deutschen Redensart bei einem Liebespaar den Elefanten spielen auch als Symbol geistiger Schwerfälligkeit […]. Obige Redensart wird angewendet auf einen Galan, auf den man – ohne daß er von dem Manöver etwas merkt – des Ehemanns Eifersucht lenkt, wenn ein anderer der Frau des letzteren den Hof macht. Mit Abschwächung und gleichzeitiger Verschiebung der ursprünglichen Bedeutung gebraucht man diese Redensart mit Bezug auf die Anstandsperson, meist weiblichen Geschlechts, die ein Brautpaar auf seinen Spaziergängen begleitet. Diese letzte Bedeutung des Ausdrucks ist hier gemeint.▲