Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Victor Ehrenberg, Leipzig, 14.1.1875, 4 S., hs. (dt. Schrift), am Briefkopf gedrucktes Signet: zwei ineinandergeschlungene W-Versalien in einem von einem geschlossenen Gürtel gebildeten Ring, darüber eine fünfzackige Krone, Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, NL Ehrenberg acc. Darmst. 1924.138
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- Physical LocationStaatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße
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Windelband an Victor Ehrenberg, Leipzig, 14.1.1875, 4 S., hs. (dt. Schrift), am Briefkopf gedrucktes Signet: zwei ineinandergeschlungene W-Versalien in einem von einem geschlossenen Gürtel gebildeten Ring, darüber eine fünfzackige Krone, Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, NL Ehrenberg acc. Darmst. 1924.138
Leipzig. 14.1 75
Liebster Freund!
Es scheint mir das Einfachste, Beste, Ihnen die soeben eingelaufene Antwort des Herrn[a] Dürr[1] hiermit zur Verfügung zu stellen; Sie werden Sich mit Ihren Aerzten darüber einigen müssen, ob die angegebene Temperatur Ihrem Zustande genügt. ich bemerke, daß während des Januar 1873 in Pisa die Temperatur bei Tage (was ich damals 9 Uhr früh bis 6 Uhr abends nannte) fast nie unter 15° Cels[ius] sank, zu Mittag aber, wenn nur irgend die Sonne sich zeigte, um 20° variirte, sodaß ich mir dort am ersten Tage einen Sonnenüberzieher machen ließ und selbst diesen bei dem Bummeln am Arno meistens auf dem Arm trug.
Dürr giebt den Brennerweg als den einfachsten an in der irrigen Meinung, daß Sie von Leipzig ausgehen. In Ihrem Fall würde ich unbedingt den Ihnen neulich proponirten Weg[2] durch Südfrankreich vorziehen. Tüngel[3], mit dem ich neulich darüber sprach, entschied sich aus klimatischen Gründen unbedingt dafür; er erzählte, daß aus diesem | Grunde vor einigen Jahren[b] seine Eltern[4] nach Mentone von Hamburg auch nicht über Leipzig-Verona –, sondern Göttingen-Straßburg-Marseille gegangen wären. Also empfiehlt es sich jedenfalls von Göttingen aus um so mehr. Selbst für den Fall, daß Sie Pisa wählen, rathe ich Ihnen Folgendes: direct Straßburg-Marseille zu fahren, und von da eines der französischen Messagera-Dampfboote (aber, da Nachfahrt, nur 1t. Classe) zu nehmen, bis Livorno. Sie ersparen Sich dann nicht nur den Alpenpaß, sondern auch den manchmal noch sehr rauhen Appeninübergang Bologna-Pistoja; und Sie reisen außerdem bedeutend näher.
Sie ersehen ferner aus dem einliegenden Briefe[c], daß Sie einer besonderen Empfehlung an Dürr meinerseits nicht mehr bedürfen, und daß Ihre Visitenkarte nun genügen wird, Sie bei ihm einzuführen; ich hoffe auch, Sie benutzen eventuell seine Mitwirkung bei der Wohnungswahl.
Noch eins möchte ich Sie bitten, auf allen Reisewegen zu beachten. Sie werden nirgends der Zolluntersuchung entgehen können; aber ich bitte Sie dringend, dies unerquickliche Geschäft stets Ihrem Herrn Bruder[5] zu überlassen! |
Die dazu verwendeten Räume sind fast überall zugig, zumal da fortwährend aus- und eingelaufen wird; man muß oft lange warten und kann sich dabei am ehesten Etwas holen. Das muß also Ihr Reisemarschall immer machen, während Sie ihm im Restaurationszimmer irgend eine flüssige oder compacte Stärkung bereithalten können!
Wenn Sie Sich erst definitiv entschieden haben, bitte ich um freundliche Benachrichtigung, um mit Ihnen in Verbindung zu bleiben; eventuell bereite ich dann Dürr auf Ihre Ankunft vor. Jedenfalls reisen Sie glücklich, und kommen Sie und ganz wohl und[d] kräftig wieder!
Was mich betrifft, so habe ich mich nach fröhlichen Weihnachtsferien wieder in die Arbeit hineingefunden. Meine Collegien[6] (diesen Winter „Geschichte der neueren Philos[ophie]“ und publici einstündig „Zusammenhang der deutschen Dichtung und[e] der deutschen Philos[ophie]“) verlangen relativ viel Zeit, und nun beginnen mit der nächsten Woche auch wieder die Damenvorlesungen[7], wobei ich diesmal „Psychologie“ in die empfänglichen Weiberherzen senken werde. Sonst passirt hier nichts sonderlich Neues. Nächster Tage | erwarte ich Bardeleben[8] zum Besuch auf einige Tage, der in Jena ein ziemlich einsames und[f] freudloses Dasein führt.
Doch ich eile, Ihnen diese Nachrichten zukommen zu lassen und wünsche, daß dieselben Ihren Absichten genügen!
Leben Sie wohl und grüßen Sie Ihren Bruder! Ihr alter
W Windelband[g]
Kommentar zum Textbefund
b↑vor einigen Jahren ] am Rand hs. Notz mit Bleistift von anderer Hand: das war im Jahre 66, als die Brennerbahn noch nicht existirte. V[ictor]g↑W Windelband ] unter der Unterschrift hs. mit Bleistift v. Ehrenbergs Hd.: Ich erbitte mir diesen soeben erhaltenen Brief mit Nächstem zurück; übrigens: bange machen gilt nicht u[nd] der Weg über d[en] Brenner ist schließlich ebensogut. Herzlichen Gruß. V[iktor]Kommentar der Herausgeber
3↑Tüngel ] sehr wahrscheinlich August Emil Tüngel (geb. 1851): als Emil Tüngel, Student der Medizin in den Adreßbüchern der Universität Heidelberg von WS 1865/66–SS 1870 geführt. Am 17.10.1871 und 18.4.1874 für Medizin in die Matrikel Leipzig eingeschrieben (unter Nr. 0637 bzw. 0436: von Heidelberg bzw. 1874 von Berlin kommend, aus Hamburg stammend, Alter 20 bzw. 22, protestantisch, Vater: Arzt, Vater 1874 als verstorben eingetragen), Wohnung 1871: Sternwartenstraße 11, 1. Etage; 1874: Sternwartenstraße 45, 2. Etage rechts. Seit 1876 Assistenzarzt am Allgemeinen Krankenhaus St. Georg in Hamburg (Das Allgemeine Krankenhaus St. Georg in Hamburg nach seiner baulichen Neugestaltung. Festschrift unter Redaktion v. Th. Deneke. Leipzig u. Hamburg: Voss 1912, S. 121).4↑seine Eltern ] Georg Carl Franz Tüngel (1816–1873), seit 30.12.1857 bis zu seiner Erkrankung 1866 1. Hospitalarzt am Allgemeinen Krankenhaus St. Georg Hamburg, verheiratet seit 10.12.1850 mit Charlotta Maria Auguste Homann (*1827) (WBIS).7↑Damenvorlesungen ] Näheres nicht ermittelt. Die Mutter Viktor von Weizsäckers, Paula von Maibohm (1857–1947), hat Windelband in solchen Damenvorlesungen für die nicht zur Universität zugelassenen Frauen erlebt, vgl. ihre Empfehlung an Viktor von Weizsäcker, in Straßburg bei Windelband zu studieren, in: Viktor von Weizsäcker Gesammelte Schriften Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 20.▲