Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Victor Ehrenberg, Leipzig, 6.1.1875, 6 S., hs. (dt. Schrift), am Briefkopf gedrucktes Signet: zwei ineinandergeschlungene W-Versalien in einem von einem geschlossenen Gürtel gebildeten Ring, darüber eine fünfzackige Krone, Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, NL Ehrenberg acc. Darmst. 1924.138
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- Physical LocationStaatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße
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Windelband an Victor Ehrenberg, Leipzig, 6.1.1875, 6 S., hs. (dt. Schrift), am Briefkopf gedrucktes Signet: zwei ineinandergeschlungene W-Versalien in einem von einem geschlossenen Gürtel gebildeten Ring, darüber eine fünfzackige Krone, Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, NL Ehrenberg acc. Darmst. 1924.138
Leipzig, 6. Jan[uar] 1875.
Mein lieber Ehrenberg!
Ihr freundlicher Brief ist mir, da ich schon abgereist war, nach Potsdam nachgesandt worden; aber Sie werden verzeihen müssen, daß ich dort in dem bekannten Dolce far niente[1] der Weihnachtszeit, in dem steten Familiensinn und in dem Wechsel meines Aufenthalts zwischen Berlin und Potsdam um so weniger zur Beantwortung gekommen bin, da Sie ja auch dieselbe nicht allzu eilig gemacht haben. Jetzt hab ich auf Empfang Ihrer Karte sofort an den Verlagsbuchhändler Alphons Dürr[2] geschrieben, der seit dem October mit seiner Familie eine Villa bei Mentone bewohnt; ich werde Ihnen die freilich wohl erst in einigen Tagen zu erwartende Antwort sofort mittheilen. Seine genaue Adresse schreibe ich Ihnen dann mit meiner Karte. Was Ihre Hinreise betrifft, so glaube ich beinahe, daß Sie von Göttingen aus, wenn es zunächst nach Mentone geht, mindestens ebenso gut als über den Brenner durch Südfrankreich reisen. Sie haben dann den Vorzug, keinen Alpenpaß fürchten zu müssen. Wenn sie (Frankfurt, Basel, Lausanne, Lyon, Marseille, Mentone reisen, oder noch besser) Frankfurt, Straßburg, Mühlhausen, Lyon, Marseille (cf. Bädeckers Ober-Italien p. 1ff.), so fahren Sie klimatisch zweifellos am sicher|sten, ich meine außerdem am schnellsten, und die einzige Unbequemlichkeit, daß Sie zum Einritt nach Frankreich, eines visirten Passes bedürfen (worauf ich Sie schon jetzt aufmerksam machen möchte, da sich die, soviel ich weiß, bei der franz[ösischen] Gesandtschaft zu vollziehende Visierung leicht einige Zeit verzögern könnte) fällt für Sie fort, da Sie denselben zu Mentone überhaupt nöthig haben. Bei dem Passe fällt mir ein, daß, wenn Sie denselben einmal besorgen, Sie gut thun, ihn für alle Fälle auch auf Italien visiren zu lassen, wofür sonst im Allgemeinen kein Paß nöthig ist – die Fahrt durch Südfrankreich hat außer dem klimatischen auch den Vorzug, daß, da Sie doch vermuthlich auf der Rückfahrt etwas nach Italien hinein und über den Brenner zurückgehen, Sie Abwechslung in der Tour haben; auch brauchen Sie dann nur zwei Nächte vor Mentone (also etwa Lyon und Marseille) außerhalb Deutschlands zu schlafen. Wie Sie aber auch fahren mögen, ich bitte Sie (falls Ihre Aerzte nicht daran denken sollten) auf der Hinfahrt möglichst kleine Touren, täglich nicht über 7–8 Stunden zu machen; vor Allem aber nie Nachts zu reisen. Gehen Sie über den Brenner, so dürfen Sie nicht in einer Tour, zumal er die kälteste und des Wechsels halber gefährlichste Strecke ist, von München bis Bozen fahren, sondern müssen in Innsbruck Station machen. Man fährt Morgens gegen 11 aus München und ist etwa um 6 in Innsbruck; am nächsten Tage Morgens gegen 9 von da fort und ist um 4 in Bozen. Eher können Sie dann am nächsten Tage von Bozen gegen 9 Uhr ausfahren, gegen Mittag durch | das weniger interessante und nicht sehr gesunde Verona durchfahren und gegen 5 Uhr in Mailand rasten; um nächsten Tages die kleine Fahrt bis Genua zu machen. In Innsbruck habe ich im Hotel d’Europe[3] ganz vortrefflich gewohnt, ebenso in Bozen in der „Kaiserkrone“[4], wenn auch in letzterem, wie vermuthlich in allen Häusern Bozens, bei der damaligen Temperatur weder ein Zimmer noch das Speiselocal warm zu bekommen waren; sonst war Alles vortrefflich. In Verona habe ich vor nunmehr drei Jahren im Hotel Rainer al gran Parigi[5] vorzüglich und billig logirt. In letzterem wurde französisch, in den beiden ersten wird natürlich deutsch gesprochen. In Mailand ist das deutsche Hotel Reichmann[6] sehr zu empfehlen; in Genua gleichfalls das große Hotel Trombettan Feder[7], wo alle Sprachen gesprochen werden.
Sollten Sie nach Pisa gehen, so werden Sie von Genua aus die Wahl haben zwischen der Dampfschifffahrt (eine Nacht) und der Landfahrt, welche sehr schöne, aber wegen der Lücke in der Eisenbahnverbindung zwischen Chiavari und Laspezia etwas umständlich ist, bei noch schwacher Gesundheit aber jedenfalls vorzuziehen bliebe. Wenn Sie dahin gehen, schreiben Sie mir hoffentlich noch einmal kurz; für heute möchte ich nur im Allgemeinen Folgendes sagen: ich habe im Hotel Victoria[8] ganz vorzüglich gewohnt, freilich Pension 11 fr[ancs], aber Alles sehr gut, reinlich und reichlich. Jedenfalls hüten Sie sich vor der | Pension im Hotel d’Europe[9], welche zwar nur 8–9 fr[ancs] beträgt, aber unreinlich ist und ungenießbares Essen liefert. Am meisten würde ich Ihnen Folgendes rathen: Sie finden leicht eine angenehme möblirte Wohnung im Privathause; aber Sie dürfen nur am Arno-Quai[a] Nord[b]seite wohnen. Eine solche pflegt aus einem schönen, sonnigen Wohnzimmer, Schlafzimmer, Dinnerzimmer und Küche zu bestehen und monatlich 100–130 fr[ancs] zu kosten. Dabei ist aber selten, wie in unserm chambre garnies[10] Bedienung; sondern man lebt da ganz für sich. Man hält sich eine Aufwärterin, welche Vormittags für geringes Lohn[c] die Zimmer reinigt, der Cafetino schickt gern den Morgencafe, man frühstückt und[d] dinirt ganz vortrefflich und billig im ristorante Nettuno[e]: kurz – ich hätte diese Lebensart gewählt, wenn ich nicht bei meinem damals noch zweifelhaften Zustande mich vor dem Alleinschlafen hätte fürchten müssen. In Ihrer Lage aber in Begleitung Ihres Herrn Bruders[11] würde ich unbedingt so leben. Der würde Ihnen gern Morgens den Cafe kochen, auch wohl Abends, wenn es einmal der Feuchtigkeit halber wünschenswerth ist, einheizen; und Sie hätten dann doch des Nachts stets Jemand bei sich. Bei der Auswahl der Wohnung würde ich rathen auf Folgendes zu achten: völlige Sonne haben Sie nur auf der Nordseite des Arno und auch das nur in den Häusern zwischen dem Rest[aurant] Nettuno und der Porta alle Piagge, d. h. vom Nettuno stromaufwärts. Vom Nettuno an stromabwärts, dem im Bau begriffenen Ponte a Mare zu, macht der Strom eine Wendung nach Süden, vermöge deren die Sonne in die Häuser der Nordseite des Quais schräger und seltener fällt. Außerdem achten | Sie darauf, daß das Zimmer mit einem Teppich ausgelegt ist und einen Ofen, besser noch einen Kamin hat; denn man heizt nicht sowohl der Erwärmung, als der Austrocknung des Zimmers halber; und dazu ist ein Kamin bei Weitem mehr geeignet. In jeder Beziehung vertrauen Sie den Rathschlägen der beiden alten liebenswürdigen Damen, Frl. Ludwig’s, an welche einliegende Karte[f] gerichtet ist, den Schwestern des hiesigen Physiologen[12], welche in schönster Lage des Quai’s, unmittelbar bei der Promenade, in einem großen Palazzo, eine vorzügliche, natürlich deutsche Pension halten. Das beste wäre schon, Sie fänden dort selbst Unterkommen; aber das ist bei so vorgerückter Zeit und dem Rufe des Hauses sehr wenig wahrscheinlich. Weiß ich jedoch erst einmal bestimmt, daß Sie nach Pisa wollen, so bin ich gern bereit, für Sie dort anzufragen, ob noch Platz ist. Sollten Sie endlich die Bequemlichkeit der Hotels allem Uebrigen vorziehen, so rathe ich unbedingt zu Vittoria, wo ich, wie gesagt, vorzüglich aufgehoben war; ich lege eine Karte[g] an den Hotelbesitzer bei, und auch der alte, geschwätzige Kellner wird sich wohl noch des Sgr. Prussiano[13] von No. 75 erinnern. Französisch genügt in diesem Hotel vollständig. Das Haus der Frl. Ludwig’s, als der Sgre. tedesche[14] zeigt Ihnen Jedermann; ich habe den Namen des Palazzo vergessen. Auf keinen Fall lassen Sie Sich durch irgend welche Vorspiegelungen, auch nicht durch die immer doch nur geringen Preisdifferenzen verleiten, anders als unmittelbar an der Nordseite des Arno zu wohnen. Die Commissionäre, selbst Frl. Ludwig’s wollten mich gern bestimmen, an | einem oder dem andern der vom Arno aus einspringenden Plätze zu wohnen; aber ich habe nachher von mehr als einem Falle gehört, wo das des Kranken Wohl recht schlecht bekommen ist.
Damit schließe ich für heut, zu weiteren Mittheilungen sehr gern jeden Augenblick bereit. Mag Ihnen das neue Jahr Ihre volle Gesundheit und fröhlichen Lebensmuth wiedergeben! Genießen Sie das Land unserer Sehnsucht auch unter diesen Verhältnissen, mit voller Hingebung – nur hüten Sie Sich zunächst vor allen Galerien und Kirchen. ich weiß – denn ich habe es selbst empfunden – welche Tantalusqualen man dem gebildeten Kranken auferlegt, den man nach Italien schickt. Aber seien Sie stark gegen die Lockung der Kunst, bis die Natur Sie nicht nur erfreut, sondern auch geheilt hat. Und vor Allem scheuen Sie so lang als möglich das feuchtkalte Campo Santo zu Pisa!
Von Jellinek habe ich kurz vor Weihnachten einen Brief aus Wien. Daß Amor wirklich als Landschaftsmaler[15] aufgetreten ist, läßt sich daraus noch nicht mit Bestimmtheit ersehen; ich wünsche ihm eigentlich, gerade die unendliche Empfindung möchte bei ihm noch warten, bis er sich fester und sicherer begrenzt hat.
Leben Sie wohl und lassen Sie mich auch einmal wissen, wie es Ihnen jetzt geht. ich freue mich Ihretwegen der wärmeren Luft. Grüßen Sie unbekannter Weise Ihren Herrn Bruder. Meine Frau sendet Ihnen beste Grüße und den Wunsch baldiger Genesung!
In alter Freundschaft Ihr
W Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑Alphons Dürr ] 1828–1908, in Leipzig, vgl. Reinhard Würffel: Lexikon deutscher Verlage. Berlin: Grotesk 2000, S. 194.3↑Hotel d’Europe ] vgl. z. B. Italien. Handbuch für Reisende von Karl Baedeker. Erster Theil: Ober-Italien bis Livorno, Florenz und Ravenna, nebst der Insel Corsica. 9., verb. Aufl. Leipzig 1879, S. 38: Hotel Europäischer Hof gemeint?5↑Hotel Rainer al gran Parigi ] vgl. Italien. Handbuch für Reisende von Karl Baedeker, 1879, S. 185: deutsch, gelobt.6↑Hotel Reichmann ] vgl. Italien. Handbuch für Reisende von Karl Baedeker, 1879, S. 117: Gran Bretagne & Reichmann (?)7↑Hotel Trombettan Feder ] vgl. Italien. Handbuch für Reisende von Karl Baedeker, 1879, S. 77: Hot. Trombetta […], der ehemalige Admiralitätspalast.8↑Hotel Victoria ] vgl. Italien. Handbuch für Reisende von Karl Baedeker, 1879, S. 316: Vittoria; oder S. 315: Hot. Royal Victoria9↑Hotel d’Europe ] vgl. Italien. Handbuch für Reisende von Karl Baedeker, 1879, S. 315: Europa […] von Kaufleuten besucht.11↑Bruders ] Richard Ehrenberg (1857–1921), Volkswirtschaftler, 1875 Lehre im Bankgewerbe und Buchhandel, 1884–1886 Studium der Staatswissenschaften in Tübingen, 1886 Promotion, 1886–1889 Studium in Göttingen und München, 1899 Promotion (Dr. phil.) in Rostock, 1889–1897 Sekretär des Könglichen Kommerz-Kollegiums in Altona, 1897–1899 ao. Prof. für Staatswissenschaften in Göttingen, 1899–1921 o. Prof. für Staatswissenschaften in Rostock, (Professorenkatalog der Uni Rostock, NDB).12↑Schwestern des hiesigen Physiologen ] Carl Friedrich Wilhelm Ludwig (1816–1895), Anatom, Physiologe u. Zoologe, seit 1865 o. Prof. für Physiologie in Leipzig (Historisches Lexikon der Schweiz, Professorenkatalog der Universität Leipzig).15↑Amor wirklich als Landschaftsmaler ] Anspielung auf das Gedicht gleichen Titels von Goethe (1789), hier unklar▲