Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Victor Ehrenberg, Leipzig, 24.10.1872, 3 S., hs. (dt. Schrift), Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, NL Ehrenberg acc. Darmst. 1924.138
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- Physical LocationStaatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße
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Windelband an Victor Ehrenberg, Leipzig, 24.10.1872, 3 S., hs. (dt. Schrift), Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, NL Ehrenberg acc. Darmst. 1924.138
Leipzig. 24.10.72
Mein lieber Ehrenberg[1]!
Die Nachricht von Ihrem Unwohlsein hat mich mit innigem Bedauern erfüllt, und ich wünsche nur, daß die Genesung, in der Sie Sich glücklicher Weise wieder befinden, einen recht guten und schnellen Fortgang nehmen möge. Schonen Sie nur ja Ihre angegriffne Lunge, und wenn Sie Sich geistiger Arbeit enthalten sollen, so würde ich auch die Abfassung Deutscher Trauerspiele[a][2] nicht für die günstigste Kur halten. Wenn Sie von meinen Büchern noch irgend welchen Gebrauch zu machen gedenken, so behalten Sie dieselben ruhig: ich kann sie sehr gut entbehren.
Die Trauergeschichte von der Verzögerung meiner Habilitation[3] muß ich Ihnen aber schleunigst erzählen. Denken Sie, unser gemeinsamer gelehrter Freund Ahrens[4] ist seit August aus L[eipzig] verreist und noch jetzt nicht einmal zurückgekehrt, sodaß, da er zu meiner Kommission gehört, auf sein Orakel noch immer gewartet | werden muß. Unter diesen Umständen läßt sich voraussehen, daß ich vor Anfang December auch im allergünstigsten Falle nicht zu lesen anfangen[5] kann, wobei ich dann höchstens noch ein kleines Publicum über Spinoza[6] anfangen könnte.
Wenn ich bei dieser langweiligen Geschichte Etwas angenehm finde, so ist es der Umstand, daß die mir so sehr erwünschte und, von Ihnen so liebenswürdig angebotene Hilfe in den academischen Geschäften mir nicht verloren geht, indem ich doch wohl mit Sicherheit hoffen darf, daß Sie in dieser Zeit wieder die volle Kraft Ihrer Gesundheit[7] wiedergefunden haben werden.
Von Jellinek[8] hatte ich im September einen sehr liebenswürdigen Gratulationsbrief[9] aus Tyrol, den ich längst beantwortet haben würde, wenn ich seine Adresse[10] in Wien wüßte, wohin er doch offenbar schon zurückgekehrt ist. Sie würden mich um so mehr verbinden, liebster Ehrenberg, je eher Sie mir – aber ohne sich anzugreifen – diese Adresse mittheilen wollten.
Bardeleben[11] und ich wohnen nun in der projec|tirten Weise Thalstraße 15. II[12] und stören einander trotz des Zusammenwohnens garnicht, weil wir uns sehr gemüthlich dabei einrichten.
Mit den besten Grüßen und den innigsten Wünschen für Ihre völlige Genesung verbleibe ich Ihr
W Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Ehrenberg ] Victor Ehrenberg hatte sich am 27.10.1871 für Jura in die Matrikel Leipzig eingeschrieben (unter Nr. 0996: aus Wolfenbüttel stammend, Alter 20, jüdisch, Vater: Dr. phil. und Schuldirektor), Wohnung zum Zeitpunkt der Einschreibung: Göttingen, Nicol-Str. 35, 2. Etage.3↑Habilitation ] vgl. Windelbands Habilitationsschrift, deren vollständiger Titel im Druck lautet: Ueber die GEWISSHEIT DER ERKENNTNISS. Habilitationsschrift der philosophischen Facultät der Universität zu Leipzig vorgelegt und als Einladung zu der am 26. April 1873 Morgens 11 Uhr im Bornerianum Nr. VI zu haltenden Probevorlesung über das Verhältniss der Erkenntnisstheorie zur Metaphysik ausgegeben von Dr. Wilhelm Windelband. Berlin: F. Henschel 1873. 96 S. Bornerianum war der Name des 1870–71 errichteten dreigeschossigen Collegiengebäudes der Universität Leipzig, mit 10 Hörsälen, die Platz für 55–230 Hörer boten (kriegszerstört).4↑Ahrens ] Heinrich Ahrens (1808–1874), Mitglied der Habilitationskommission Windelband (vgl. das Protokoll über das Habilitationskolloquium Windelbands vom 13.11.1872), seit 1860 Prof. der Staatswissenschaften in Leipzig. 1873 Gründungsdirektor des Philosophischen Seminars der Universität Leipzig (BEdPh).5↑nicht zu lesen anfangen ] vgl. Jellinek an Ehrenberg aus Leipzig vom 9.11.1872: Windelband hat seine Schrift bereits von der Fakultät erhalten. Die Leute sind natürlich ganz entzückt von ihm. In drei Wochen wird er wohl seine Antrittsvorlesung halten können. Er hat sich sehr teilnehmend nach Dir erkundigt und giebt die Hoffnung nicht auf, Dich als seinen ersten Famulus begrüssen zu können (Christian Keller: Victor Ehrenberg und Georg Jellinek Briefwechsel 1872–1911. Frankfurt a. M.: Klostermann 2005, S. 161).6↑Publicum über Spinoza ] nicht im Vorlesungsverzeichnis angekündigt. Erst im SS 1873 sind Windelbands Veranstaltungen dort nachgewiesen (vgl. http://histvv.uni-leipzig.de/vv/index.html).7↑Kraft Ihrer Gesundheit ] vgl. Ehrenberg an Jellinek aus Braunschweig vom 16.11.1872: Meine Reise nach Leipzig ist ad calendas graecas vertagt; der Arzt spricht von Neujahr, ich glaube an gar nichts mehr, sondern lasse stoisch die Tage kommen und gehen. Leid thut es mir, herzlich leid, daß ich nur schwerlich das Freund Windelband gegebene Versprechen werde halten können. Sage ihm das, zuleich mit meinen besten Grüßen, die Du auch den übrigen Bekannten ausrichten magst (Christian Keller: Victor Ehrenberg und Georg Jellinek Briefwechsel 1872–1911. Frankfurt a. M.: Klostermann 2005, S. 164).8↑Jellinek ] Georg Jellinek hatte sich am 14.11.1871 und am 13.11.1872 (als Dr. phil.) jeweils für Philosophie in die Matrikel Leipzig eingeschrieben (unter Nr. 0130 bzw. 0185: aus Leipzig, Vaterland Österreich, Alter 20 bzw. 21, Israelit, Vater: Prediger in Wien), Wohnung 1871: Wien, Burgstraße 7, 2. Etage; 1872: Leipzig, Sternwartenstraße 19. b.9↑Gratulationsbrief ] vgl. Jellinek an Ehrenberg aus Reichenhall vom 9.9.1872: Die erste Nachricht, die ich nach meiner Rückkehr empfing, war die Anzeige der Verlobung unseres lieben Windelband. Ob Du diese ebenfalls bekommen hast, kann ich aus den Begleitungszeilen meiner Exmatrikel nicht ersehen. Ich habe ihm natürlich von Herzen gratuliert, sowie Ehrenberg an Jellinek aus Kassel vom 16.9.1872: Windelbands Verlobungsanzeige erhielt ich Mitte vorigen Monats, nachdem sie in Leipzig u. Braunschweig umhergeirrt war u. habe ihm gleich geantwortet (Christian Keller: Victor Ehrenberg und Georg Jellinek Briefwechsel 1872–1911. Frankfurt a.M.: Klostermann 2005, S. 152–154).10↑Adresse ] vgl. Ehrenberg an Jellinek aus Braunschweig vom 25.10.1872: Auch von Windelband hatte ich ein Schreiben; er wünschte auch Deine Adresse, die ich ihm mittheilte; doch bist Du jetzt am Ende schon in Leipzig (Christian Keller: Victor Ehrenberg und Georg Jellinek Briefwechsel 1872–1911. Frankfurt a. M.: Klostermann 2005, S. 160).11↑Bardeleben ] Karl (von) Bardeleben (1849–1918), Anatom, Prof. an der Universität Jena. Studium in Greifswald, Heidelberg, Berlin, Leipzig. Im Krieg 1870/71 als Assistenzarzt (vgl. Wer ist’s (1912); Pagel: Biographisches Lexikon hervorragender Ärzte des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin/Wien 1901, Sp. 86-90).12↑Thalstraße 15. II ] vgl. Windelband an die Philosophische Fakultät der Universität Leipzig vom 25.7.1872▲