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- TitleWindelband an Samuel Singer, Gutachten für Paul Häberlin, Heidelberg, 23.1.1914, 4 S., hs. (lat. Schrift), Staatsarchiv des Kantons Bern, Akten der Erziehungsdirektion: Professoren und Dozenten Philos. Fakultäten I+II Haag–Hitzig, BB III b 616, Faszikel 2
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Windelband an Samuel Singer, Gutachten für Paul Häberlin, Heidelberg, 23.1.1914, 4 S., hs. (lat. Schrift), Staatsarchiv des Kantons Bern, Akten der Erziehungsdirektion: Professoren und Dozenten Philos. Fakultäten I+II Haag–Hitzig, BB III b 616, Faszikel 2
Heidelberg, 23 Jan[uar] 1914
Vertraulich[a]
Hochgeehrter Herr Decan,
Ihrem Wunsche, über die Persönlichkeit des Herrn Dr. Häberlin[b] in Bezug auf die Qualification für die durch Prof. Dürr’s Tod[1] erledigte Professur Ihrer Fakultät Auskunft zu geben, komme ich gern nach, weil ich in der erfreulichen Lage bin, ihn auf das wärmste dafür empfehlen zu können.
Herr[c] H[äberlin] hat sich mit einer sehr anerkennenswerten Energie zu einer selbständigen wissenschaftlichen Stellung aufgerungen; er ist ein tüchtiger Self-made-man. Vom theologischen Studium ist er allmählich zur Philosophie und Naturwissenschaft übergegangen. Dieser Uebergang zeigt sich zuerst in der Promotionsschrift[2] „über den Einfluss der speculativen Gotteslehre auf die Religionslehre Schleiermacher’s“, worin ein beachtenswerter Beitrag zum Verständnis der Entwicklung Schleiermachers von den „Reden“[3] bis zur Dogmatik gegeben wird: schon | hier ist eine analytische Feinheit in der Darlegung der psychologischen Beziehung zwischen der Religion als Leben und der Religion als Lehre zu bemerken. Weiterhin zeigt sich der Uebergang in der Habilitationsschrift[4] über „Herbert Spencer’s Grundlagen der Philosophie“: diese kritische Studie läuft schliesslich auf das Problem hinaus, wie sich die „Universalität“ der Philosophie, in der Spencer ihre Verwandtschaft mit der Religion sah, zu ihrer „Wissenschaftlichkeit“ verhält. Dabei fasst H[äberlin] den Begriff der Wissenschaft wesentlich im Sinne der Naturwissenschaften: und so ist er dem Problem nicht mehr historisch, sondern systematisch in dem zweibändigen Werke[5] „Wissenschaft und Philosophie“ zu Leibe gegangen. Der Inhalt dieses Buchs ist eine psychogenetische Analyse des wissenschaftlichen und philosophischen Denkens. Es ist etwas breit und sehr allgemeinverständlich geschrieben, aber es zeigt eine ernste und selbständige Untersuchung. H[äberlin] gehört keiner der bestehenden | Schulen oder „Richtungen“ an; er sucht sich seinen eignen Weg. Er kennt die Probleme und die Theorien; aber er will nicht entscheiden, er will nur sich und den Leser psychologisch orientieren. Seine ganze Art ist durchaus psychologisch, aber er fasst die Psychologie sehr allgemein[6], etwa in dem zuletzt von Th[eodor] Lipps vertretenen Sinne auf. Dabei ist er in ihr allseitig orientiert; er hat bei G[eorg] El[ias] Müller in Goettingen psychophysische Studien getrieben, er ist von seiner Kreuzlinger Zeit[7] in Verbindung mit den psychiatrischen Kreisen[8] und der Freud’schen Anhängerschaft gekommen. Auch hier aber ist er auf keine Parteiansicht eingeschworen. Er macht persönlich den Eindruck eines verständigen, umsichtigen und wohlunterrichteten, nachdenklichen und durchaus zuverlässigen Mannes. Ich traue ihm zu, dass er ein guter und eindringlicher Docent ist, und was man in Basel hört, bestätigt dies. Vom Koll[egen] Joël[9], der ja H[äberlin]’s ganze akademische Laufbahn miterlebt hat, werden Sie gewiss darüber Näheres und Authentisches erfahren. |
Noch Eines möchte ich nicht unerwähnt lassen, muss aber dabei die volle Discretion der Herren Kollegen in Anspruch nehmen. Unsre Heidelberger philosophische Fakultät geht damit um, neben den beiden philosophischen Ordinariaten eine Professur für Psychologie und Paedagogik, zunächst etwa als Extraordinariat zu begründen, und die Kommission hatte dafür als geeignetste Persönlichkeit Herrn Häberlin ins Auge gefasst[10]. Indessen bedarf es zur Einrichtung eines solchen Lehrstuhls eines Entschlusses der Regierung und eines Beschlusses der Kammern[11], und dazu ist in der diesmaligen Budgetperiode (also für gut zwei Jahre) keine Aussicht; und auch für die vorläufige Remuneration[12] eines etwa dafür umzuhabilitierenden Docenten ist augenblicklich noch kein Geld vorhanden. Das kommt also als eine Aussicht für Herrn H[äberlin] kaum in Betracht, lässt aber erkennen, dass er auch ausserhalb seiner schweizer Heimat nicht unbeachtet geblieben ist. Im Ganzen bin ich überzeugt, dass Ihre Fakultät einen guten Griff tun würde, wenn sie ihn wählte[13], und dass er in seiner soliden, schlichten Art seinen Platz gut ausfüllen würde. Es sollte mich freuen, wenn ich etwas dazu beitragen könnte.
Mit hochachtungsvollem Grusse ergebenst der Ihrige
W Windelband
Kommentar zum Textbefund
a↑Vertraulich ] darüber Stempel: Prof. Windelband, das Wort Vertraulich schräg darunter geschrieben und mit je einem Strich über und unter dem Wort hervorgehobenKommentar der Herausgeber
1↑Prof. Dürr’s Tod ] Ernst Dürr, geb. 1878, Studium bei Oswald Külpe und Wilhelm Wundt, war am 27.9.1913 in Bern verstorben, wo er seit 1906/07 Prof. für Philosophie, speziell Pädagogik und Psychologie gewesen war (BEdPh).7↑Kreuzlinger Zeit ] Häberlin war von 1904–09 Direktor des Thurgauer Lehrerseminars in Kreuzlingen gewesen (BEdPh).9↑Joël ] Karl Joëls Gutachten über Häberlin ist in Auszügen abgedruckt in: Peter Kamm: Paul Häberlin Leben und Werk Bd. 1. Die Lehr- und Wanderjahre (1878–1922). Zürich: Schweizer Spiegel Verlag 1977, S. 315–316). Dieses Gutachten ist dem von Windelband bemerkenswert ähnlich.11↑der Kammern ] der beiden Kammern des Badischen Landtags. Windelband war selbst von 1905–1908 über zwei Legislaturperioden Mitglied der 1. Kammer gewesen, u. a. in der Schul- und in der Budgetkommission.▲