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- TitleWindelband: Gutachten über Karl Jaspers im Habilitationsverfahren, Heidelberg, 7.11.1913, 2 S., hs. (lat. Schrift), UA Heidelberg, H-IV-102/140 (Philosophische Fakultät 1913/14, Dekan: Carl Neumann), Bl. 65
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- Physical LocationUniversitätsarchiv Heidelberg
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Windelband: Gutachten über Karl Jaspers im Habilitationsverfahren[1], Heidelberg, 7.11.1913, 2 S., hs. (lat. Schrift), UA Heidelberg, H-IV-102/140 (Philosophische Fakultät 1913/14, Dekan: Carl Neumann), Bl. 65
Gutachten.[a]
Einer Habilitation für Psychologie, wie sie Herr Dr. Jaspers[2] beantragt, steht principiell nichts im Wege, seitdem die philosophische Fakultät die Psychologie als ein eignes Fach anerkannt hat, für das eine besondere Professur neben den philosophischen in Aussicht genommen[3] wird: nur wird die Fakultät auch hier dieselben Voraussetzungen erfüllt wissen wollen, die für einen neuen Lehrstuhl als erforderlich angesehen werden. Es wird erwartet werden, dass der Psychologe in die eigentlich philosophische Lehrtätigkeit nicht eingreift, dass er aber für seine Person eine genügende philosophische Vorbildung besitzt, um die Psychologie nicht in einer einseitigen Richtung, insbesondre nicht bloss experimentell zu behandeln.
Die Erfüllung dieser Bedingungen vereinigt sich bei Herrn Jaspers mit einer hervorragenden Befähigung für den wissenschaftlichen Betrieb der Psychologie in so glücklicher Weise, dass seine Habilitation in unsrer Fakultät lebhaft zu begrüssen ist. Herr Jaspers ist zur Psychologie, zu der viele Wege führen, seinerseits von der Psychiatrie aus gekommen: aber alle seine Arbeiten, von der Inauguraldissertation über „Heimweh und Verbrechen“[4] bis zu seinem umfassenden Werke „Allgemeine Psychopathologie“[5] sind nicht so sehr praktisch-therapeutisch, als vielmehr theoretisch orientiert, und sie verfolgen dabei weder hirnanatomische noch psychophysische Interessen, sondern ihre Hauptaufgabe liegt immer in der Richtung psychologischen Verständnisses und psychologischer Begriffsbildung.
Ueber den fachwissenschaftlichen Wert dieser Arbeiten und namentlich des Hauptbuches steht mir kein eignes Urteil zu: ich habe mich deshalb an Herrn Kollegen Nissl, dessen Assistent Herr Dr. Jaspers ist, mit der Bitte um eine gutachtliche Aeusserung[6] gewendet, und er hat die grosse Güte gehabt, mir die beiliegenden Blätter zur Verfügung zu stellen, von deren Inhalt ich die Fakultät Kenntnis zu nehmen bitte.
Seinem für Dr. Jaspers so ehrenvollen Urteil kann ich meinerseits | nur hinzufügen, dass namentlich an der „Allgemeinen Psychopathologie“ auch für den der Materie ferner Stehenden die durchsichtige Sicherheit in der Beherrschung und Disposition des riesigen Stoffs, die Klarheit und Schärfe der begrifflichen Verarbeitung und die ruhige Vorsicht des Urteils deutlich erkennbare und lebhaft anzuerkennende Vorzüge bilden. Hiernach erwarte ich sehr viel von einer Arbeit über Methodologie der Psychologie, welche Dr. Jaspers jetzt angegriffen, aber noch nicht so weit gefördert hat, dass er darauf mit seiner Habilitation warten möchte.
Es ist deshalb meine Meinung, dass von Herrn Jaspers eine wertvolle Bereicherung und Ergänzung für die Lehrwirksamkeit der Fakultät erhofft werden kann. Auch ist nicht zu befürchten, dass seine Habilitation eine Beeinträchtigung der Lehrtätigkeit der Docenten der Philosophie bedeuten würde. Ueber Psychologie hat bisher ausser mir nur gelegentlich Herr Prof. Driesch[7] gelesen, der aber, soviel ich weiss, keineswegs die Absicht hat, auf diese Seite den Schwerpunkt seiner Wirksamkeit[8] zu legen. Andrerseits ist es kein Mangel, dass Herr Jaspers nicht beabsichtigt, psychophysische Uebungen abzuhalten oder dafür etwa ein Institut zu anzustreben: soweit dafür in der Studentenschaft Interesse besteht, wird es durch einen Docenten der medicinischen Fakultät, Herrn Dr. Gruhle, befriedigt.
Hiernach beantrage ich, Herrn Dr. Jaspers zu den weiteren Habilitationsleistungen zuzulassen und sein Werk „Allgemeine Psychopathologie“ als Habilitationsschrift anzuerkennen. Wegen der formalen Bestimmung der Pflichtexemplare[9] behalte ich mir Antrag in der Sitzung vor.
Heidelberg, 7. November 1913
W Windelband[b]
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Habilitationsverfahren ] vgl. für den ganzen Vorgang dieselbe Akte Bl. 57-71, Gutachten Nissls Bl. 64, Gesuch vom 21.10.1913, venia legendi erteilt am 15.12.1913.2↑Herr Dr. Jaspers ] vgl. den Briefwechsel Windelband–Jaspers in der vorliegenden Edition. Zum ganzen Vorgang vgl. Horst Gundlach: Wilhelm Windelband und die Psychologie. Heidelberg: University Publishing 2017, S. 337–413 u. S. 421–426.3↑Professur neben den philosophischen in Aussicht genommen ] vgl. Windelbands Gutachten über Paul Häberlin als Kandidat für die Heidelberger psychologisch-pädagogische Professur vom 29.7.1913.4↑„Heimweh und Verbrechen“ ] vgl. Jaspers: Heimweh und Verbrechen. Diss. Universität Heidelberg 1909. 116 S. Auch in: Archiv für Kriminal-Anthropologie 35 (1909), S. 1–116. Ein Exemplar dieser Schrift befand sich in Windelbands Besitz.5↑„Allgemeine Psychopathologie“ ] vgl. Jaspers: Allgemeine Psychopathologie. Ein Leitfaden für Studierende, Ärzte und Psychologen. Berlin: Springer 1913.6↑gutachtliche Aeusserung ] vom 4.11.1913, in Auszügen abgedruckt in: Hans Friedrich Fulda, unter Mitarbeit v. Peter König u. Ingeborg von Appen: Der Philosoph Karl Jaspers. In: Joachim-Felix Leonhard (Hg.): Karl Jaspers in seiner Heidelberger Zeit. Heidelberg: Heidelberger Verlagsanstalt 1983, S. 84.7↑Driesch ] Hans Driesch (1867–1941), 1907 in Heidelberg habilitiert, 1911–20 ao. Prof., 1920 Prof. in Kön, 1921 in Leipzig, 1933 vorzeitg emeritiert (BEdPh).8↑Schwerpunkt seiner Wirksamkeit ] vgl. Max Weber an Willy Hellpach vom 11.7.1913: Bei den Habilitationsfragen betr. „Psychologie“ hat man auch von Ihnen gesprochen. Es war aber die Ansicht, daß keine Habilitation von auswärts mehr wünschenswerth sei […] und daß, da Gruhle und Jaspers sich jedenfalls habilitieren, der Bedarf gedeckt sei. In der That werden nun schon drei Psychologen hier sein [Hans W. Gruhle, Karl Jaspers, Windelband], vier, wenn man Driesch rechnet, der das Fach ja ebenfalls liest (Windelband will es aufgeben, nachdem die Sache [die Habilitation Jaspers’] arrangiert ist (Max Weber Gesamtausgabe Abt. II, Bd. 8, S. 271). Es kann hier nur um die Frage der Umhabilitation nach Heidelberg gegangen sein, denn Hellpach war mithilfe der externen Gutachten Max Webers, Windelbands, Franz Nissls und Robert Eugen Gaupps bereits seit 21.2.1906 an der Technischen Hochschule Karlsruhe für das Fach Psychologie auf naturwissenschaftlicher Grundlage habilitiert (vgl. Max Weber Gesamtausgabe Abt. II, Bd. 4, S. 503-505). Windelband las im SS 1913 letztmals über Psychologie (Vorlesungverzeichnis in Heidelberger historische Bestände – digital).▲