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- TitleWindelband: Promotionsgutachten über Stephen Sheldon Colvin, Straßburg, 19.4.1897, 2 S., hs. (dt. Schrift), ADBR Strasbourg, 62 AL 17 (Dekanat Georg Dehio 1896/97)
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- Physical LocationArchives Departementales du Bas-Rhin Strasbourg
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Windelband: Promotionsgutachten über Stephen Sheldon Colvin, Straßburg, 19.4.1897, 2 S., hs. (dt. Schrift), ADBR Strasbourg, 62 AL 17 (Dekanat Georg Dehio 1896/97)
[a]Herr Stephen Colvin[1] aus America, Mag. Art[b] der Providence-University[c], ist, nachdem er ein Semester in Berlin studirt, vor einem Jahre hierher gekommen, um zu promoviren. Fleißig in den Vorlesungen, hat er sich in meinem Seminar als ein ernster und nachdenklicher Mann erwiesen, der, soweit er die sprachlichen Schwierigkeiten überwand, rege und eifrige Teilnahme an der Discussion entfaltete. Das Thema der von ihm jetzt vorgelegten Inauguraldissertation[2] entsprang seiner eignen Wahl und ist von ihm in einer Weise behandelt worden, welche mich durch die Weite der geschichtlichen Kenntniß, durch die Selbständigkeit der Auffassung und die verhältnißmäßige Reife des Urteils überrascht hat.
Herr[d] Colvin[e] legt eine historische Reflexion über das Schopenhauersche System vor und entwickelt diese aus den Widersprüchen, in welche der Philosoph geraten mußte, wenn er auf die Kant’sche Erkenntnißtheorie seine Willensmetaphysik aufpfropfen wollte. Dieser an sich freilich nicht neue Grundgedanke wird schon in der | Einleitung und noch mehr bei der Ausführung zu dem allgemeinen Gedanken erweitert, daß die Unterscheidung von Noumena[f] und Phaenomena[g], wo sie irgend metaphysischen Sinn haben soll, sich immer nur scheinbar aufrecht erhalten läßt, indem die Beziehungen zwischen beiden, auf der einen Seite geleugnet, auf der andern implicite[h] doch wieder behauptet werden und indem, trotz des Postulats völliger Scheidung, in den Begriff des Dinges-an-sich Merkmale der Erscheinung und vice versa[i] eingeschmuggelt werden. Der Nachweis dieses Verhältnisses an der Schopenhauer[j]’schen Willenslehre, immer in Beziehung auf den kritischen Phänomenalismus, ist dem Verfasser durchaus gelungen; er berührt zwar selbstverständlich viele Puncte, welche den Darstellern und Kritikern des Gegenstandes auch vorher nicht entgangen sind; aber er hat seine Selbständigkeit und Eigenart in dem glücklichen Griff, mit welchem er die Reciprocität von Ding-an-sich und Erscheinung bei Schopenhauer[k] auf den Doppelsinn des Kausalitätsprincips (zeitlose und zeiliche Kausalität; Wirkung und Präcedens) reducirt hat. Zu zeigen, wie schließlich doch aller Inhalt des Ding-an-sich aus der Erscheinung genommen, und wie andrerseits die phänomenale Welt aus dem Begriffe des Ding-an-sich construirt wird, ist dem Verfasser an dem Doppelsinn des Schopenhauer[l]’schen „Willen“ ganz besonders gut gelungen (p. 92, p. 122).
Indem der Verfasser diesem Princip gemäß die Beziehungen zwischen dem „Willen“ und der „Erscheinungswelt“ bei Schopenhauer analysirt, zeigt er die mannigfachen Verwandtschaften dieses buntschillernden Systems mit den Lehren großer Philosophen, mit Kant, Platon, Spinoza, Schelling, Fichte, Aristoteles[m] auf. Diese Vergleiche werden häufig discutirbar sein; der größte Teil erscheint mir durchaus zutreffend; immer aber sind es Schlaglichter, die das Schriftchen interessant machen, oft frappirender Art. Zu den letzteren gehört die Schlußwendung, mit der Schopenhauer[n]’s Lehre (unter starker Ausnutzung des Schlußkapitels der W[elt] a[ls] W[ille] u[nd] V[orstellung]) dem Neuplatonismus angenähert und als ein System betrachtet wird, das gleich diesem alle Gegensätze und Widersprüche in religiösen Mystizismus aufhebt.
Im Ganzen halte ich die Schrift für ein erfreuliches specimen eruditionis[o], beantrage die Zulassung des Verfassers zum mündlichen Examen und schlage als Prädicat für die Arbeit vor:
libellus docte et subtiliter scriptus.[p]
Strassburg[q], den 19tn April[r] 1897
Windelband
Kommentar zum Textbefund
a↑in lat. SchriftKommentar der Herausgeber
1↑Herr Stephen Colvin ] vgl. Martha Mitchell’s Encyclopedia Brunoniana: Professor of educational psychology, was born in Phenix, Rhode Island, on March 29, 1869. He prepared for college at Worcester Academy and graduated from Brown with a bachelor of philosophy degree in 1891. He was awarded a master of arts degree upon examination in 1894. During these years of study he also reported for the Providence Journal and the Evening Telegram and taught rhetoric at Brown from 1892 until 1895, when he went to study at the Universities of Berlin [u. a. bei Georg Simmel] and Strasburg. His thesis for his Ph. D. at Strasburg in 1897 was Schopenhauer’s Doctrine of the Thing-in-Itself and his Attempt to Relate it to the World of Phenomena. He taught English at Worcester Academy from 1897 to 1901, and continued his studies under G. Stanley Hall at Clark University, becoming interested in educational psychology. From 1901 to 1903 he was assistant professor of psychology at the University of Illinois. He returned to Brown for one year as assistant professor of philosophy before his return to the University of Illinois, where in due time he became head of the department of psychology. […] He died suddenly from a heart ailment on July 15, 1923 in New York City (http://www.brown.edu/Administration/News_Bureau/Databases/Encyclopedia/search.php?serial=C0630 (4.7.2017)).2↑Inauguraldissertation ] Schopenhauer’s Doctrine of the Thing in Itself and his Attempt to Relate it to the World of Phenomena. Providence, R. I.: The Franklin Press 1897. 74 S. Vgl. in derselben Akte Colvins Gesuch vom 16.3.1897, gewünschte Prüfungsfächer: Hauptfach Philosophie, Nebenfach Staatsökonomie und Englische Philologie. Eröffnung des Verfahrens am 17.3.1897; Weitergabe der Promotionsschrift an die Gutachter Windelband u. Theobald Ziegler am 15.4.1897.▲