Bibliographic Metadata
- TitleMoritz Drobisch: Gutachten über die Habilitationsschrift Windelbands, Leipzig, 22.9.1872, 2 S., hs., UA Leipzig, PA 1071, Bl. 3–4
- Creator
- Participants
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationUniversitätsarchiv Leipzig
- URN
- Social MediaShare
- Archive
- ▼
Moritz Drobisch[1]: Gutachten über die Habilitationsschrift Windelbands, Leipzig, 22.9.1872, 2 S., hs., UA Leipzig, PA 1071, Bl. 3–4
Decane maxime spectabilis!
Herr Dr. Windelband hat nach meinem Urtheil uns eine wohl durchdachte, gut und klar geschriebene Abhandlung[2] vorgelegt, in der er sich als einen besonnenen kritisch-philosophischen Forscher zeigt. Wie aus derselben und noch näher aus der beigelegten Doctordissertation (einer sehr beachtenswerthen Untersuchung) hervorgeht, hat er sich hauptsächlich durch das Studium der Schriften Kantʼs, Fichteʼs, Herbartʼs, Schopenhauerʼs, Lotzeʼs, Trendelenburg’s u. a. (auch der Philosophen des Alterthums) gebildet und mit den in die Erkenntnißtheorie einschlagenden Ergebnissen der Naturwissenschaften (wie Physiologie der Sinneswahrnehmungen, Psychophysik) sich bekannt gemacht. Der Inhalt seiner Abhandlung ist in der Hauptsache eine psychologische und logische Untersuchung, mit thunlichster Beiseitesetzung metaphysischer Principien, deren Feststellung er sich für die Zukunft noch vorbehält. Die Form der Entwickelung seiner Gedanken möchte ich im guten alten Sinne des Worts eine dialektische nennen; daher eine gewisse Umständlichkeit, der ich jedoch nicht den Vorwurf unnöthiger Breite machen will. Der Verfasser[a] zeigt sich als scharfen psychologischen Beobachter, gründlichen Logiker und sorgfältig abwägenden Kritiker. Die Kennzeichen einer bestimmten philosophischen Schule trägt er nicht; er scheint vor Allem darnach zu streben, Kritiker im Geiste Kantʼs seyn zu wollen, was ihm nur zur Empfehlung dienen kann. Der Gang seiner Arbeit ist in Kürze folgender. S. 1–6 motivirt einleitungsweise die Aufgabe, die sich d[er] Verfasser[b] gestellt hat, als eine sowohl an sich berechtigte als zeitgemäße. Hierauf geht die Untersuchung aus von einer Analyse des Begriffs der Gewißheit (S. 7–20), gelangt zu einer ersten (8), zweiten (12) und dritten Definition der Gewißheit (17), unterscheidet demgemäß subjective und objective Gewißheit (18) und formulirt (21) die Aufgabe der Abhandlung in der Frage: unter welchen Bedingungen darf die subjective Gewißheit als eine objective betrachtet werden? Die erstere führt den Verf[asser] auf die Erörterung der Wahrscheinlichkeit (23ff.). Das Kriterium der Gewißheit aber ist die Nothwendigkeit des Denkens (30), die indeß wieder theils eine psychologische theils eine logische ist. Aus der ersteren geht die Meinung hervor, die nur auf psychologischer Nowendigkeit beruht (32). Erklärung der Möglichkeit des Irrthums. Von der Meinung verschieden ist aber der Glaube, diejenige subj[ective] Gewißheit, welche auf der Verschmelzung theoretischer Vorstellungen mit dem Bewußtseyn der ethischen (zuvor erörterten) Nothwendigkeit beruht (42). Religiöser, geschichtlicher Glaube, Autoritätsglaube. Kritik von Kant’s Postulaten der reinen praktischen Vernunft. Nun wendet sich die Untersuchung zur logischen, objectiven, aber nur formalen Gewißheit, die allein auf der Einstimmung des Denkens mit sich selbst beruht (65). Die unmittelbare Gewißheit der logischen Grundsätze gehört zu dem Gegebenen[c] (67). Die logische Gewißheit ist überschätzt worden. Dieser Reflexionsphilosophie stellte sich der englische Empirismus schroff entgegen. Aber erst Kant unternahm mit Erfolg die Erklärung der Objecte der Erfahrung durch seine Formen | a priori[d] der Anschauung und Kategorien, insbesondere die der Causalität. Diese sind gegeben[e] und dadurch Kriterien des Objectiven (85). Die subjective Gewißheit, welche das Recht hat, ihre objective Gewißheit zu beanspruchen, nennen wir das Wissen[f], und diese ist diejenige subjectiv-objective Gewißheit, welche in der logisch nothwendigen Bearbeitung des in der Nothwendigkeit der Anschauung des äußern und innern Sinnes gegebenen[g] Vorstellungsinhaltʼs beruht (89). Der Schluß (90) hebt noch hervor, daß d[er] Verfasser[h] darauf verzichten müsse zu beweisen, daß der Inhalt unsrer Vorstellungen eine Verwandtschaft oder Identität mit irgend etwas außer[i] der Subjectivität Objectiven besäße: nur die Beziehung[j] der Subjectivität auf ein Objectives habe er zu retten vermocht. Die metaphysische Präcisirung dieses Resultates ist dem Verf[asser] noch eine offene Frage.
Ich finde mich mit H[errn] Dr. W[indelband] in vielen Punkten in Uebereinstimmung; in manchen andern bin ich abweichender Ansicht. Doch darauf kommt wenig an, sondern nur darauf, ob die vorgelegte Abhandlung in ihrer Art so tüchtig ist, um als Habilitationsdissertation zugelassen werden zu können. Mir geht darüber kein Zweifel bei, und ich stimme daher für Annahme derselben und Zulassung des Verfassers[3][k] zu den übrigen vorschriftsmäßigen Prüfungen.
Drobisch
N[ach]S[chrift]. Es ist nicht Schuld des Facultätsdieners, wenn er die Mappe erst später abholen sollte. Ich hatte ihn allerdings auf Ende des Monats angewiesen, fand mich aber hinterher doch bewogen, die Abhandlung sofort zu lesen.
Dr[obisch]
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Moritz Drobisch ] 1802–1896, Mathematiker und Philosoph, ab 1820 Studium der Mathematik und Philosophie in Leipzig, 1824 Habilitation für Philosophie in Leipzig, 1824 Promotion in Mathematik in Leipzig. 1826–67 o. Prof. für Mathematik in Leipzig, 1826 ao. Prof. für Philosophie in Leipzig, 1842–1886 o. Prof. für Philosophie in Leipzig. Mehrmals Dekan, 1841/42 Rektor (Leipziger Professorenkatalog).2↑Abhandlung ] vgl. Windelband: Ueber die Gewissheit der Erkenntniss. Eine psychologisch-erkenntnisstheoretische Studie. Berlin: F. Henschel 1873 (Leipziger Habilitationsschrift 1872).3↑Verfassers ] diesem Antrag schließen sich die Kommissionsmitglieder, der Dekan Johannes Overbeck sowie die übrigen Fakultätsmitglieder am 23., 28. bzw. 29.10.1872 an4↑den 22. September 72 ] Habilitations- und Promotionsschrift waren der Kommission (Moritz Drobisch, Heinrich Ahrens, Friedrich Zöllner) am 20.9.1872 (nach Eintreffen der Ministerialgenehmigung zur Zulassung Windelbands zu den Habilitationsleistungen und der Entrichtung der Gebühren) zugegangen.▲