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- TitleWindelband an Unbekannt, Straßburg, 16.3.1883, 4 S., hs. (dt. Schrift), Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Georg Jellinek, N 1136/32
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- Physical LocationBundesarchiv Koblenz
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Windelband an Unbekannt, Straßburg, 16.3.1883, 4 S., hs. (dt. Schrift), Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Georg Jellinek, N 1136/32
Strassburg i/E. 16 März 83
Verehrtester College,
Die erfreuliche Einigkeit unserer Söhne[1] hat sich hoffentlich erhalten, und ich darf wünschen, daß der Ihrige sich so gesund und kräftig weiterentwickelt hat, wie ich es dem meinigen nachsagen darf, der, obwol er noch ungeboren in halbfremdes Land gezogen ist, sich redlich nährt.
Weniger günstig scheinen Sie über unsre Einigkeit zu denken, und es wird Zeit, daß ich den Schatten zu zerblasen suche, der sich dazwischen gedrängt. Es ist wahr, daß ich seit zwei Jahren nicht an Jellinek geschrieben habe, obwol in meiner Freundschaft für ihn nicht die geringste Veränderung eingetreten ist, – was mich betrifft: es ist vielmehr eine Kette von Umständen, Nachlässigkeiten meinerseits, Zufällen etc., die dies negative Resultat herbeigeführt hat. Das | Jahr 81 war für mich ein sehr zerfahrenes und bewegtes. Anfangs die Grazer Frage[2], in der ich mit J[ellinek] zuletzt correspondirt habe. Dann bin ich von Anfang März bis Pfingsten in Paris[3] gewesen. Zurückgekehrt, kam ich in einen sehr arbeitsvoll zusammengedrängten Semesterrest hinein, und zugleich verlobte sich in meinem Hause die Schwester meiner Frau mit einem Freiburger Collegen.[4] In dieser hastvollen Zeit bin ich freilich nicht dazu gekommen, an J[ellinek] zu schreiben. Zum Herbst gingen wir dann an die See, nachher nach Berlin und[a] Potsdam und kehrten erst in den letzten Octobertagen zurück. Sie entsinnen sich, daß ich damals auf der Hinreise – Anfang August – in Göttingen, die Freude hatte, Sie zu sehen. Sie erzählten mir damals, daß J[ellinek] inofficiell verlobt sei; Sie thaten es unter aller Reserve, und ich fühlte mich danach nicht berechtigt, ihm darüber zu schreiben. Zu Neujahr erhielt ich dann von ihm einen einfachen Glückwunsch, und Sie mögen es nun begreiflich, oder nicht begreiflich finden, – meine Absicht, ihm zu schreiben schob sich immer und immer wieder hinaus in dem unsicheren Gefühl, sollt’ ich das nun erwähnen oder nicht. | So ließ ich – unter Concurrenz meiner allgemeinen Brieffaulheit, für die ich mich auf Ihre eigne Erfahrung und diejenigen vieler anderer Menschen berufen darf – Monat auf Monat verstreichen: da erhielt ich eines Tages (es war wol anfangs Juli) ein paar Zeilen von J[ellinek][5], die mir mit sehr lebhafter und einigermaßen befremdender Wendung die Pistole auf die Brust setzten. Dabei die Bemerkung, er habe mir seine Verlobung angezeigt. Die Anzeige hatte mich nun leider verfehlt; ich kann nur vermuthen, daß sie in dem Herbst, wo ich im Norden war, verschickt worden ist und bei dem Hin- und Herwandern irgendwo hängen geblieben. Uebrigens sagte mir Rümelin[6], daß auch er keine Anzeige erhalten hätte. Wie dem auch sei, auf jenen Brief mußte ich natürlich sogleich antworten: daß ich es nicht that, ist eine Nachlässigkeit, für die ich als Entschuldigung nur anführen kann, daß ich damals sehr in Unruhe war; die Straßburger Angelegenheit war eben entschieden; ich reiste hin und her, zu Haus hatten wir gleichzeitig schwiegerelterlichen Besuch; zudem aber Abschiedsfeierlichkeiten u. s. f. Nun betrat J[ellinek] den Weg der Zwangsvollstreckung durch Sie; und Ihren Brief hatte ich noch nicht vier|zehn Tage in Händen, da erschien auch schon der persönliche Executor in der liebenswürdigsten Gestalt. Trotzdem will ich nicht verhehlen, daß ich über die Execution selbst nicht eben erbaut war. Von da an bin ich nun freilich aus Unruhen, Arbeiten und Sorgen nicht herausgekommen: aber ich hätte die Sache doch längst in Ordnung bringen können, wenn nicht theils der Aerger, theils das Schuldbewußtsein mich immer wieder von Woche zu Woche zum Aufschub verführt hätten. Das ist nun einmal so, ich bekenne es offen.
Und darum eine Bitte. Machen wir einen Strich unter die ganze Geschichte. Es wäre mir sehr wehe, wenn die Reihenfolge von Zufällen, Nachlässigkeiten und Mißverständnissen eine dauernde Störung mir sehr werthvoller Beziehungen herbeiführen sollte. Das darf nicht sein! Und darum die Bitte: Schicken Sie diesen Brief mit meinem pater peccavi[7] an den lieben Jellinek[8] und in einigen Tagen werde ich ihm und dann auch Ihnen ex integro[9] schreiben[10]!
Mit treuem Gruße Ihr
Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑unserer Söhne ] Sigfrid Windelband war am 27.1.1883 zur Welt gekommen. Da Victor Ehrenbergs Sohn Hans Ehrenberg erst am 4.6.1883 geboren wurde (leo-bw.de) und die Anrede untypisch wäre, käme als Adressat des vorliegenden Schreibens am ehesten noch der in den Schreiben Windelbands an Ehrenberg bzw. Jellinek gelegentlich erwähnte ehemalige Freiburger Kollege Windelbands, Gustav Rümelin in Frage (NDB), dessen Sohn Gustav Adolf Viktor Rümelin am 15.1.1882 zur Welt gekommen war (vgl. dessen Normdateneintrag des Südwestdeutschen Bibliotheksverbunds) – wenn besagter Rümelin nicht selbst im Schreiben erwähnt würde. Wer letzlich die Vermittlerrolle übernahm, muß offen bleiben.3↑von Anfang März bis Pfingsten in Paris ] vgl. darüber Windelband an Georg Jellinek vom 9.10.1880, an Paul Siebeck vom 7.3.1881, an Karl Dilthey vom 20.7.1881 und an Jellinek vom 22.3.1883.4↑Schwester … Collegen. ] gemeint sind Elsbeth Wichgraf u. Johannes von Kries. Die Hochzeit fand am 6.10.1881 statt (https://www.janecke.name/gaeste/wichgraf-in-potsdam).5↑ein paar Zeilen von Jellinek ] vgl. Jellinek an Ehrenberg aus Klamm vom 19.8.1882: Wie viel mehr mußte mich das auffällige Schweigen W[indelband]’s kränken! Wenn er meine Verlobungsanzeige wirklich nicht erhalten hat, so verdient sein Schweigen nur insofern recht, als er meinen letzten um Aufklärung bittenden Brief – bis heute – unbeantwortet ließ (Christian Keller: Victor Ehrenberg und Georg Jellinek Briefwechsel 1872–1911. Frankfurt a. M.: Klostermann 2005, S. 309).6↑Rümelin ] Gustav Rümelin (1848–1907), seit 1878 Professor für Römisches Recht an der Universität Freiburg, vgl. Ehrenberg an Jellinek aus Rostock vom 11.8.1882: Erst heute kann ich Dir antworten, da Windelband meinen (am Empfangstage des Deinigen) geschriebenen Brief auch nicht beantwortet hat. Ich schrieb dann an Rümelin darüber, der mir soeben nur meldet, daß es auf eine Briefschreib-Verbummelei Seitens Windelbands hinausläuft, letzterer werde Dir und mir dieser Tage schreiben, Deine Verlobungsanzeige habe er nicht erhalten (Christian Keller: Victor Ehrenberg und Georg Jellinek Briefwechsel 1872–1911. Frankfurt a. M.: Klostermann 2005, S. 309).8↑Schicken … Jellinek ] vgl. Jellinek an Ehrenberg aus Klamm vom 18.3.1883: Den einliegenden Brief [damit ist das vorliegende Schreiben gemeint] sende ich Dir mit dem kurzen, aber characteristischen Commentar, daß W. mir vor 6 Wochen die Geburt eines Sohnes anzeigte, ich ihm sofort gratulirte und die Geburt des meinigen mittheilte – worauf ich heute! diese Antwort erhalte. Ich glaubte zwischen Euch beiden die Sache längst durch einen Brief seinerseits erledigt und bin ganz baff, daß er auch Dir noch immer nicht geschrieben hat. Ich meinerseits gehe von der Auffassung aus, daß es eine Grenze der erlaubten Bummelei giebt, deren Ueberschreiten die Möglichkeit wirklicher freundschaftlicher Gesinnung und aufrichtigen Interesses ausschließt; diese Grenze hat W. überschritten, und ich bin mit ihm fertig, und kann nur wünschen, daß uns das Schicksal nicht einmal an eine Universität zusammen führen möge; sowie Jellinek an Ehrenberg aus Wien vom 17.7.1883: Windelband hat mir zwei äußerst herzliche Briefe [vom 22.3. u. 22.6.1883] geschrieben und ich habe ihm von Herzen geschrieben. Ich hänge zu sehr an den Erinnerungen meiner Jugend, als daß ich selbst die spät dargebotene Hand zu einem Bunde zurückwiesen könnte (Christian Keller: Victor Ehrenberg und Georg Jellinek Briefwechsel 1872–1911. Frankfurt a. M.: Klostermann 2005, S. 312 u. 318).10↑schreiben ] vgl. Windelband an Jellinek vom 22.3.1883. Ein weiteres Schreiben Windelbands an Ehrenberg in der Affaire Windelband (Ehrenberg am 18.6.1883) ist, abgesehen vom vorliegenden, nicht ermittelt (Christian Keller: Victor Ehrenberg und Georg Jellinek Briefwechsel 1872–1911. Frankfurt a. M.: Klostermann 2005, S. 314).▲