Bibliographic Metadata
- TitleCarl Albrecht Bernoulli an Vaihinger, Arlesheim (Schweiz), 3.3.1930, 2 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 2 n
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 2 n
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Carl Albrecht Bernoulli an Vaihinger, Arlesheim (Schweiz), 3.3.1930, 2 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 2 n
Arlesheim den 3. März 1930
Hochgeehrter Herr Geheimrat,
Für die Ehre, Ihr Schreiben[1] vom 28. Febr[uar] zu erhalten, sage ich Ihnen verbindlichsten Dank. An der Stelle zwischen den beiden eckigen Klammern[2] ist folgender Satz ausgelassen worden: (anschliessend ohne Absatz an: – provocieren) „Ich habe nicht eher die Hände frei, bevor ich nicht den jungen Kaiser sammt Zubehör in den Händen habe.“ (Absatz, dann: Unter uns! –) (Briefwechsel Nietzsche-Overbeck S. 453 Z. 2 v[on] o[ben])[a]
Ich ersuche Sie diese Mitteilung einer Stelle, zu deren Geheimhaltung ich mich vor mehr als 15 Jahren gegenüber dem Nietzschearchiv aus Anlass der Abschliessung des Processvergleichs[3] verpflichtet habe, vertraulich[b] zu behandeln. Ebenso vertraulich[c] füge ich bei, dass sie binnen kurzem gedruckt zu lesen sein wird, bei Erich Podach, Nietzsches Hadesfahrt Heidelberg Niels Kampmann[4] – nach Schweizer Recht ist im August d[es] J[ahres] (und nicht erst wie in Deutschland am 1. Jan[uar] 1931) der Urheberschutz Nietzschescher Niederschriften hinfällig und diese sind[d] zum Nachdruck frei. – |
Was Ihre zweite Frage betrifft, ob „diese merkwürdige Stelle jemals zum Gegenstand der Diskussion gemacht worden“ sei, so ist mir „in der schweizerischen Literatur“, wie Sie sich ausdrücken, allerdings kein Beispiel bekannt. Es ist auch besser, dass diese Aeusserung unerörtert blieb – denn bei Kriegsausbruch wurde N[ietzsche] in törichtester Weise als geistiger Kriegsurheber in Frankreich und leider auch bei uns in der Schweiz bezichtigt und diese Stelle hätte in publizistischer Verwendung nur Oel ins Feuer geschüttet. Wohl aber habe ich im privaten Briefwechsel mit meinem Freunde Charles Andler[e][5] in Paris diese Aeusserungen erwogen und wir waren beide der Meinung, N[ietzsche] habe unter dem „Verzweiflungskrieg“ einen Krieg verstanden, in welchem Deutschland unterliege. Insofern erscheint mir diese „dämonisch hellseherische Prophezeiung“[6], wie Sie richtig sagen, auch heute noch nicht dazu angetan, an die grosse Glocke gehängt[7] zu werden. Aber die Forschung soll sich mit ihr beschäftigen.
In vorzüglicher Hochachtung und Ergebenheit bin ich Ihr
Carl Albr. Bernoulli
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Ihr Schreiben ] es sind keine Schreiben Vaihingers an Bernoulli überliefert. Am 28.2.1930 hatte sich Vaihinger offenbar im Zuge der Vorbereitung der 5. Aufl. von Nietzsche als Philosoph (s. u.) an Bernoulli gewandt, siehe die Zitate nach Vaihinger im vorliegenden Schreiben.2↑zwischen den beiden eckigen Klammern ] vgl. Nr. 318, Friedrich Nietzsche an Franz Overbeck, nach 28.12.1888, in: Richard Oehler/Carl Albrecht Bernoulli (Hg.): Friedrich Nietzsches Briefwechsel mit Franz Overbeck. Leipzig: Insel 1916, S. 452–453 (hier Ausschnitt der von Bernoulli bezeichneten Stelle am Seitenwechsel 452/453, Auslassung in eckigen Klammern wie in der Vorlage): – Ich selber arbeite eben an einem Promemoria für die europäischen Höfe zum Zwecke einer antideutschen Liga. Ich | will das „Reich“ in ein eisernes Hemd einschnüren und zu einem Verzweiflungs-Krieg provociren. [– –] (folgt Absatz) Unter uns! Sehr unter uns! –3↑Abschliessung des Processvergleichs ] über die Bedingungen des Erscheinens von Oehler/Bernoulli (Hg.): Friedrich Nietzsches Briefwechsel mit Franz Overbeck (1916). Vorausgegangen waren 1907 erhobene postume Anschuldigungen Elisabeth Förster-Nietsches gegen Franz Overbeck, die sich nach dessen Tod auf Bernoulli als Overbecks Verteidiger übertrugen. Gegen Bernoullis zweibändiges Werk Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche erwirkte Elisabeth Förster-Nietzsche 1908 eine einstweilige Verfügung, die Unterlassung des Abdruckes von Zitaten aus Briefen Nietzsches bzw. Heinrich Köselitz’ an Overbeck betreffend, die gegen Elisabeth Förster-Nietzsche gerichtet waren (vgl. David Marc Hofmann: Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs. Elisabeth Förster-Nietzsche, Fritz Koegel, Rudolf Steiner, Gustav Naumann, Josef Hofmiller. Chronik, Studien und Dokumente. Berlin/New York: de Gruyter 1991 (Supplementa Nietzscheana. Hg. v. W. Müller Lauter u. K. Pestalozzi, Bd. 2), S. 62–63, 75–78 u. 89–90).4↑Erich … Kampmann ] vgl. Erich Friedrich Podach: Nietzsches Zusammenbruch. Beiträge zu einer Biographie auf Grund unveröffentlichter Dokumente. Heidelberg: Niels Kampmann 1930. Zitat der Briefstelle Nietzsches dort auf S. 77.5↑Charles Andler ] 1866–1933, Germanist u. a. an der Sorbonne, Paris; verfasste eine sechsbändige Biographie: Nietzsche. Sa vie et sa pensée. Paris: Bossard 1920–1931.6↑„dämonisch hellseherische Prophezeiung“ ] wahrscheinlich Zitat nach brieflicher Mitteilung, denn Vaihingers Buch war zum Zeitpunkt der Abfassung des Schreibens noch nicht erschienen. Vgl. Vaihinger: Nietzsche als Philosoph. 5., erw. u. verm. Aufl. Langensalza: Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) 1930 (Bausteine zu einer Philosophie des Als-Ob N. F. Hg. v. H. Vaihinger. Heft 1 = F. Manns Pädagogisches Magazin Heft 1170), S. 85 (im Anhang; nur in dieser Ausgabe): So ist jene furchtbare Äußerung [von einer antideutschen Liga zur Provokation eines Verzweiflungskrieges] entstanden, in welcher Nietzsche mit hellseherischer und wahrhaft dämonischer Phantasie den Weltkrieg prophezeite, ja herbeiwünschte. Vgl. dass., S. 102–108: Dritter Nachtrag. Nietzsches „Zusammenbruch“ und das Nietzsche-Archiv, in dem Vaihinger im Zusammenhang mit Podachs Veröffentlichung (Nietzsches Zusammenbruch. Heidelberg 1930), auf die Vaihinger durch Bernoulli aufmerksam gemacht wurde, noch einmal auf Nietzsches hellseherische Klarheit zu sprechen kommt (S. 103). Im weiteren Verlauf stimmt Vaihinger eine Eloge auf Elisabeth Förster-Nietzsche an. Die Briefstellen Nietzsches gegen seine Schwester, auf die Podach Wert legt, quittiert Vaihinger auf S. 105 mit den Worten: Der Herausgeber Podach hat sein Buch dazu benützt oder wir können auch sagen, dazu mißbraucht, um nun auch allerlei Stellen aus Briefen Nietzsches mitzuteilen, in denen sich letzterer schon vor der Zusammenbruchzeit […] sehr unzufrieden über seine Schwester äußert […]. Jene Äußerungen von N. zeugen von derselben Maßlosigkeit, die wir ja auch sonst von N. kennen, und die eben schon ein allzuhäufiger Vorbote der späteren Erkrankung war. Aber auch abgesehen davon, so kommen solche Verstimmungen, Mißverständnisse und Mißverhältnisse doch in den meisten Familien vor. Für jeden verständigen sind jene übellaunigen Äußerungen von N. über sein Schwester nicht Anhaltspunkte, um daraus gegen die letztere Waffen zu schmieden, sondern bieten im Gegenteil den Anlaß dazu, um das spätere Verhalten von Frau Dr. Förster-Nietzsche ihrem Bruder gegenüber zu bewundern. – Das Erscheinen von Vaihingers Buch ist gemeldet in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 97 (1930), Nr. 206 von Freitag, 5.9.1930, Bibliographischer Teil, [S. 6341]. – Meldung des Erscheinens von Podachs Buch in dass., Nr. 27 von Sonnabend, 29.3.1930, Bibliographischer Teil, S. 2567 (erreichbar via https://www.boersenblatt-digital.de/ (29.9.2024)).7↑an die grosse Glocke gehängt ] Vaihinger hat die von Bernoulli mitgeteilte Auslassung aus dem Schreiben Nietzsches an Overbeck (s. o.) nicht zitiert.▲