Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Heinrich Schmidt, Halle, 4.7.1929, 2 S., Ts. mit eU, Postskriptum von anderer Hd., Briefkopf Dr. Hans Vaihinger | Geh. Reg.-Rat | Dr. rer. techn. h. c. Dr. med. h. c. | Halle a. d. S., den … 192 …| Reichardtstr. 15, Wasserzeichen MANILA | SCHREIBMASCHINEN, darunter Flügelrad, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Haeckel-Haus
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- Physical LocationFriedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Haeckel-Haus
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Vaihinger an Heinrich Schmidt[1], Halle, 4.7.1929, 2 S., Ts. mit eU, Postskriptum von anderer Hd., Briefkopf Dr. Hans Vaihinger | Geh. Reg.-Rat | Dr. rer. techn. h. c. Dr. med. h. c. | Halle a. d. S., den … 192 …| Reichardtstr. 15, Wasserzeichen MANILA | SCHREIBMASCHINEN, darunter Flügelrad, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Haeckel-Haus
4. Juli 1929
Hochgeehrter Herr Kollege Heinrich Schmidt!
Es muss Ihnen als eine grosse Undankbarkeit erscheinen, dass ich Ihren grossen, so instruktiven[a] und für mich so wertvollen Brief vom 4. Dezember[2] vorigen Jahres[b] ohne ein Dankeszeichen hingenommen habe. Aber kurz nach seinem Einlaufen trafen mich so viele und so schwere Widerwärtigkeiten, teils familiärer[3], teils wissenschaftlicher Natur, dass ich meine ganze Korrespondenz sehr vernachlässigen[c] musste. Diese Widerwärtigkeiten haben sich über das Jahr 1929 erstreckt bis jetzt, wo endlich eine gewisse Befreiung eingetreten ist. Andererseits nähert sich jetzt der Tag der 10. Wiederkehr des Hinscheidens von Ernst Haeckel was ja wohl, wenn ich richtig orientiert bin, der 9.[d] August ist (in diesem Jahr ein Freitag).
Ihre gütigen und ausführlichen Mitteilungen vom 4. Dezember v. Js. waren und sind mir sehr wertvoll. Hier in Halle war durch Herrn Geheimrat Professor Dr. Johannes Walther[4] lange die Meinung verbreitet, die grosse Unbekannte[5] sei eine Gräfin Limburg-Stirum gewesen. Als ich Walther darüber interpellierte[e], gab er mir an: das habe er von Bölsche[6] gehört, der ja Haeckel nahe gestanden habe. Auch habe das in einer guten Besprechung des Buches[7] „Franziska von Altenhausen“[8] im „Neuen Wiener Journal“ gestanden; es habe dort geheissen: „bekanntlich“ sei die Ungenannte eine Gräfin Limburg-Stirum gewesen. (Sehr gerne würde ich diese Rezension nachdenklich kennenlernen.) |
Ich möchte glauben, dass die Version resp. Legende Limburg-Stirum durch Haeckel selbst absichtlich veranlasst worden ist; er wurde ja wohl vielfach interpelliert[f], wenn man ihn damals zufällig mit der jungen Dame zusammen sah, und um die Neugierigen auf falsche Fährte zu führen, gab er einen falschen Namen an – ein durchaus berechtigtes Verfahren, was jeder in derselben Lage getan hätte.
Sehr interessant war mir die Mitteilung von Walther, Haeckel habe einem Freund gegenüber die Meinung geäussert, die geliebte Freundin habe ihren Tod freiwillig beschleunigt. Das war auch mein erster Gedanke, als mir die betr[effenden] Briefe vorgelesen wurden. Es würde ganz im Sinne der bedeutenden Frau und ebenso ganz im Sinne von Haeckel sein, und ebenso aber auch im Sinne aller Urteilsfähigen, wenn das der Fall war. Ihre Lage war hoffnungslos, eine Verbindung mit Haeckel ohne Aussicht und die Zukunft als Stiftsdame trostlos. Was sollte sie also machen? Die Arme, die Ärmste, und doch reich und überreich durch das schöne Verhältnis zu Haeckel.
Walther erzählte mir noch, er habe 1904[g] zum 70. Geburtstag von Haeckel letzteren in Rapallo besucht (also einige Monate nach dem Tode der geliebten Freundin). Haeckel sei an jenem Tage frisch und kräftig gewesen und habe den schweren Schlag überwunden.
Walther erzählte noch, Haeckel habe bestimmt, dass die Briefe erst nach 25 resp. 30 Jahren veröffentlicht werden sollten. Wissen Sie etwas darüber?
Mit wiederholtem Dank und mit kollegialen Grüssen Ihr sehr ergebener
H. Vaihinger
P. S.[h] Gleichzeitig sende ich Ihnen als Päckchen zum Zeichen meiner Dankbarkeit eine ältere Festschrift mit einer Abhandlung[9] von mir „Kants antithetische Geistesart erläutert an seiner als Als-Ob-Lehre“. Als Herausgeber von Kant + F. A. Lange[10] werden Sie sich wohl für diese neue Auffassung Kants + seiner Geistesart interessieren. Kant erscheint hier in einem ganz anderen Lichte als in den offiziellen Darstellungen.
Die Freundin Frida[11] nahm den religiösen Dogmen gegenüber dieselbe Stellung ein, wie F. A. Lange (von Ihnen herausgegeben). Ihr waren die Dogmen „Poesie“, aber von hohem ästhetisch-ethischen Wert und bleibenden Gehalt.[i]
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Vaihinger an Heinrich Schmidt ] mit Dank an Dr. Thomas Bach, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Biologisch-Pharmazeutische Fakultät, Institut für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik „Ernst-Haeckel-Haus“.4↑Johannes Walther ] 1860–1937, Zoologe, Geologe und Paläontologe. Studium in Jena, Leipzig und München, 1882 promoviert. 1883 Mitarbeiter der Zoologischen Station Neapel, 1886 in Jena habilitiert. 1890 ao. Prof., 1894 o. Prof. in Jena (Haeckel-Professur), 1906 in Halle, 1913/1914 Gastprofessor in London. 1927 Gastprofessor an der John Hopkins University Baltimore, 1929 emeritiert (https://www.catalogus-professorum-halensis.de/waltherjohannes.html (27.9.2024)).5↑die grosse Unbekannte ] vgl. Vaihinger: Haeckels Herzensfreundin und ihre Religion des Als-Ob. Ein Gedenkblatt um [!] zehnjährigen Todestage Ernst Haeckels, 9. August 1919. In: Deutsche Zeitung Bohemia (Prag) vom 8.8.1929, S. 1–2. – Wiederabdruck u. d. T. Haeckels Herzensfreundin. Ihre Religion des Als Ob. In: Vossische Zeitung, Nr. 376 vom 11.8.1929, Beilage: Das Unterhaltungsblatt Nr. 186, S. 2–3 (= 28–29).9↑Abhandlung ] erschienen in: Max Oehler (Hg.): Den Manen Friedrich Nietzsches. Weimarer Weihgeschenke zum 75. Geburtstag der Frau Elisabeth Förster-Nietzsche. München: Musarion o. J. [1921], S. 151–182.10↑Herausgeber von Kant + F. A. Lange ] vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hg. v. Heinrich Schmidt. Leipzig: Kröner 1908 (Kröners Volksausgabe); Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Hg. v. Heinrich Schmidt. Leipzig: Kröner 1926.11↑Freundin Frida ] Frida von Uslar-Gleichen (1864–1903), Geliebte von Ernst Haeckel, vgl. Elsner, Norbert (Hg.): Das ungelöste Welträtsel. Frida von Uslar-Gleichen und Ernst Haeckel, 3 Bde. Göttingen: Wallstein 2000; vgl. Wilhelm Bölsche an Vaihinger vom 22.7.1929.▲