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- TitleVaihinger an Karl Girgensohn, Friedrichsroda, 21.9.1922, 3 S., Ts. mit eU, Briefkopf PROF. DR. HANS VAIHINGER | GEH. REG.-RAT | Halle a. S., den … 192 … | Reichardtstr. 15, Universitätsbibliothek Leipzig, NL 120/R/V/1
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- Physical LocationUniversitätsbibliothek Leipzig, NL 120/R/V/1
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Vaihinger an Karl Girgensohn, Friedrichsroda, 21.9.1922, 3 S., Ts. mit eU, Briefkopf PROF. DR. HANS VAIHINGER | GEH. REG.-RAT | Halle a. S., den … 192 … | Reichardtstr. 15, Universitätsbibliothek Leipzig, NL 120/R/V/1
21.[a] September 1922
z. Z. Friedrichsroda i/Th.
Schreibersweg 6[b]
Hochverehrter Herr College Girgensohn!
Schon lange hegte ich den lebhaften Wunsch mit Ihnen in persönlichen wissenschaftlichen Verkehr zu treten, nachdem ich Ihr bahnbrechendes religionspsychologisches Werk „Der seelische Aufbau des religiösen Erlebens“[1] kennen lernte, durch Vermittlung meines Freundes, Professor Kowalewski in Königsberg, das, wie vielen anderen Philosophen, so auch mir mannigfache wertvolle Anregungen gegeben hat.
Als ich meine „Philosophie des Als Ob“ vor vielen Jahren schrieb, liess sich noch nicht die Ausdehnung der Experimentalpsychologie auf philosophisch wichtige Probleme ahnen und so konnte ich damals aus diesem Forschungskreis keine wesentliche Förderung erwarten. Erst während der letzten zwei Jahrzehnte hat man mit einer experimentellen Klärung des Denkens, des ästhetischen, ethischen und religiösen Erlebens einen verheissungsvollen Anfang gemacht. Natürlich kann ich diese Entwicklung nicht mehr im einzelnen verfolgen, da ich fast blind bin und mir alles vorlesen lassen muss, und muss mich darauf beschränken, nur die ganz grossen Fortschritte der philosophisch orientierten Experimentalpsychologie zu berücksichtigen. So wurde mir Ihr monumentales religionspsychologisches Werk als die wichtigste Leistung im schwierigsten Problemkreis besonders empfohlen. Sie bekunden im Gegensatz zu der amerikanischen Religionspsychologie, die mit der grobschlächtigen Fragebogenmethode auf Massenbetrieb eingestellt ist, eine mehr aristokratische Empirie. Sie arbeiten mit einer begrenzten, aber voll ausgenutzten Zahl von Versuchspersonen, die ihre Erlebnisse im Anschluss an planmäßig abgestufte religiöse Lesestücke zu Protokoll geben oder zu Gesprächen über Gesangbuchlieder, über die Gründe der Glaubensgewissheit und über die Faktoren des Vertrauens veranlasst werden oder Katechismusbegriffe (Gott, Allmacht, Ewigkeit, Liebe Gottes) als Denkaufgaben behandeln müssen. Durch solchen fein ersonnenen methodischen Apparat ist es Ihnen vortrefflich gelungen, die Struktur der Religiosität nach vielen Seiten aufzuhellen. Sehr sympathisch berührt mich u. a. die Art, wie Sie Ihre experimentellen Befunde zu einer Bestätigung wesentlicher Thesen von Schleiermachers Religionstheorie und Augustins Konfessionen zu verwerten wissen (S. 493 ff. und S. 630 ff.)
Mit der allergrössten Spannung aber hat es mich erfüllt, das reiche Erlebnismaterial Ihres Werkes nach Instanzen für die paradoxen Züge einer fiktionalistisch gefärbten Religiosität[c] zu durchmustern.
Schon in dem wichtigen Kapitel über den „funktionellen Gefühlsbegriff“ sind mir unter den illustrierenden Beispielen viele Wendungen mit dem charakteristischen Als Ob entgegengetreten. Die Versuchspersonen wollen so offenbar die Paradoxie ihrer Erlebnisse zum Ausdruck bringen. S. 157 f. z. B. heißt es: „Ich hatte das Gefühl, als ob in mir geradezu im Widerspruch zu den gelesenen Worten ein Gefühl der Ruhe entstand“ … „Ich hatte dabei das Gefühl, als ob hinter der Stirn ein Kampf war: jedenfalls ging irgendetwas gegeneinander“ … „Ich sah sie (eine Gestalt) nicht bloss, sondern fühlte alle ihre Gedanken so deutlich, als ob es meine eigenen wären“ … „Ich hatte so das Gefühl, als suchte ich selbst etwas, aber könnte es nicht finden. Während des Lesens kam mir immer der Gedanke, dass es doch töricht sei, Gott so zu suchen wie es hier geschildert ist“ … „Ich hatte das Gefühl, als ob alles anschaulich vor mir war“ …[d][e] S. 166: | „Die Stimmung schwoll sozusagen an und wurde drohender. Es war so, als ob ich selber jemanden drohen wollte, allerdings nur ganz leise. Damit klang das Gedicht aus.“ … „In der ersten Reihe war noch keine Stimmung. Mit der zweiten Reihe kam sie, als von der stolzen Welt die Rede war. Da hatte ich das Gefühl der Sicherheit und Aufgeblasenheit, d. h. es war so, als ob ich etwas sicherer und aufgeblasener wäre. Das Ich kam dabei nicht so deutlich zum Bewusstsein, aber ich war es doch.“ S. 176–224 kommen noch viele ähnliche Als-Ob-Wendungen vor, die alle zeigen, wie man beim Versuch einer Formulierung irrationaler Gefühlserlebnisse notgedrungen fiktionalistisch redet[f]. Die Ausschaltung des fiktiven Faktors würde hier meines Erachtens eine Degradation des Bewusstseins zum kritiklosen Träumen bedeuten. Andererseits ist der fiktive Faktor ein zweckmässiges Mittel, die fliessenden Gefühle einigermassen zu fixieren und ihnen so eine geordnete Wirkung zu ermöglichen.
Die Protokollzitate zu dem interessanten Abschnitt über die „Anordnung des psychischen Erlebens in einem imaginären Bewusstseinsraum“ (S. 243 ff.) sind gleichfalls von fiktiven Elementen durchsetzt. Ich führe nur folgende Beispiele an. S. 248: „Fast bei den ersten Worten war ich vor der grossen sixtinischen Madonna in Dresden, aber so stark, wie ich es selten empfunden habe, so, als ob ich wirklich dort sass …“ „Beim Lesen der Überschrift und der ersten Zeilen kam es mir so vor, als ob mich eine ganze Menge von Melodien umgaben und umtönten …“ S. 249: „Es war mir, als ob ich in der Kirche war, aber ich sah sie nicht. Und doch war sie in meinem Gefühl vorhanden, ich war jedenfalls darin“ … S. 259: „Ich habe beim Begriff ‚Tempel des Heiligen Geistes‘ eine ganz eigentümliche Vorstellung, die ich schwer beschreiben kann, halb ist sie materiell, halb immateriell. Ich weis nicht einmal[g] genau, ob es richtig ist, was ich sagen werde, denn das Ganze ist sehr schattenhaft, und alles ist ganz durchsichtig, nicht greifbar fest. Es scheint, als ob es ein Mensch ist, aber vom Menschen sehe ich nur ein sehr grosses Herz, so als ob seine Brust ganz Herz und ganz durchsichtig wäre. Und zwar sehe ich nicht die äusseren Konturen des Herzens, sondern es ist so, als ob man in das Innere hineinschaute, in einen hohlen Raum. Drin gehen goldene Lichtstrahlen spiralförmig von einem Lichtnebel, der sich unten befindet, hinauf. Das alles ist in der Luft, gewissermassen nach Palästina lokalisiert. Mir kommt diese Vorstellung sehr sonderbar vor, aber ich weiss genau, dass ich sie nicht verändert, sondern[h] so gut ich es vermochte, richtig beschrieben habe.“
Sie sagen auf S. 248 prinzipiell sehr treffend: „Es gibt eben noch eine Menge feinerer Zwischenstufen und Übergangsglieder zu einer pathologischen Halluzination, in der das Phantasiebild vollen Wirklichkeitscharakter gewinnt, und den blassen und leblosen gewöhnlichen Erinnerungsbildern“. Dieser Zwischenregion gehören die Fiktionen und fiktiv gefärbten Erlebnisse im Sinne meiner „Philosophie des Als Ob“[i] an. Nur im Vorbeigehen verweise ich auf die fiktionalistisch interessanten Belege in dem Kapitel über die „Organempfindungen als symbolische Repräsentanten geistiger Vorgänge“ (S. 274–285), um die für mich wichtige These Ihres aufschlussreichen Werkes mit freudiger Zustimmung zu begrüßen.
„Die religiösen Vorstellungen können völlig unwirklich und absurd sein und trotzdem einen diskutablen Sinn haben. Wir stossen[j] dabei damit auf die psychologische Seite jener Tatsache, die unter dem Titel: Der symbolische Charakter der religiösen Erkenntnis bekannt ist (S. 564 f.)“. Ich würde nur statt vom symbolischen lieber vom fiktiven Charakter der religiösen Erkenntnis reden. Auf S. 525 ff. ist die merkwürdige „Verbindung absurder Vorstellungen mit vernünftigen Gedanken“ aus der unerschöpflichen Schatzkammer Ihrer Versuchsprotokolle in instruktiver[k] Weise illustriert.[l]
Selbstverständlich erwarte ich nicht, dass Sie der radikalen Form meiner Religionsphilosophie des Als Ob zustimmen. Trotzdem erscheint es mir[m] im beiderseitigem Interesse sehr erwünscht, wenn Sie, hochgeehrter Herr College, von der hohen Warte Ihrer religionspsychologischen Forschung Stellung nehmen möchten[n] zum Problem der religiösen Fiktionen. Eine glückliche Fügung hat Sie schon zum Winter|semester[o] in die Nachbarschaft Halle’s[2] gerückt. So darf ich wohl die Bitte aussprechen, in Erwägung zu ziehen, ob Sie auf der nächsten Versammlung der Freunde der Philosophie des Als Ob in Halle im Sommer 1923 einen Vortrag über das „Als Ob im religiösen Erleben“ halten möchten[3]. Eine anderweitige Formulierung des Themas bleibt Ihnen natürlich ganz überlassen. Die Freunde der Philosophie des Als Ob sind auch für Kritik dankbar. Unsere „Annalen der Philosophie“ haben schon oft Andersdenkende zu ritterlicher Diskussion zusammengeführt. Zu ihrem Redaktionsstab gehört sogar der positiv gerichtete Theologe Karl Heim[4], also einer Ihrer Spezialkollegen.
Mit aufrichtigem Dank für alles, was Ihr grosses Buch[p] mir an neuen Anregungen schenkte, verbleibe ich in ausgezeichneter Hochschätzung Ihr ergebener
Vaihinger[q]
P. S. Diese Nachschrift schreibe ich im „Heim d[er] Freunde der christl[ichen] Welt“[5]. Meine Frau ist Mitglied dieses Bundes, während ich selbst nur Gast bin. Aber das Milieu hier ist mir sehr sympathisch, und so werde ich noch bis[r] Anfang Oktober hierbleiben. Von der soeben erschienenen[s] 7. u. 8. Aufl. der „Philosophie des Als Ob“ habe ich von meinem Verleger, Dr. Felix Meiner in Leipzig mehrere Exemplare erhalten, über die ich frei verfügen kann, u. so wird es mir eine Ehre sein, wenn Sie mir gestatten würden Ihnen ein Exemplar zu senden, wenn ich wieder nach Halle zurückkomme, natürlich ohne jede Verpflichtung Ihrerseits. Eventuell könnte ich auch ein solches Exemplar noch dem Theologischen Seminar in Leipzig stiften, falls dieses das Buch noch nicht haben sollte.
Ich lege sehr großen Wert auf ein inneres gegenseitiges Verständnis der Theologen u. der Philosophen, u. glaube, dass für beide Teile daraus Gewinn entsteht.[t]
Kommentar zum Textbefund
o↑semester ] Beginn eines neuen Briefbogens, Briefkopf wie oben, in der Datumszeile (Ts.): Zum Briefe vom 8.9.1922Kommentar der Herausgeber
1↑„Der seelische Aufbau des religiösen Erlebens“ ] Eine religionspsychologische Untersuchung auf experimenteller Grundlage. Leipzig: Hirzel 1921.2↑in die Nachbarschaft Halle’s ] Girgensohn trat 1922 seine Professur in Leipzig an, vgl. https://research.uni-leipzig.de/catalogus-professorum-lipsiensium/leipzig/Girgensohn_45/ (13.2.2023).4↑Karl Heim ] 1874–1958, evangelischer Theologe, 1907 in Halle habilitiert, 1914 Prof. in München, 1920 in Tübingen (NDB).5↑„Heim d. Freunde der christl. Welt“ ] am 25.4.1919 in einem eigens angekauften Haus im Thüringer Kurort Friedrichroda eröffnet. Die Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt war 1903 aus einem Diskussionskreis im Kontext der 1886 von Martin Rade gegründeten Zeitschrift Christliche Welt hervorgegangen, vgl. die Einleitung in: Johanna Jantsch (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade. Theologie auf dem öffentlichen Markt. Berlin/New York; de Gruyter 1996, S. 55–62.▲