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- TitleVaihinger an Theodor Kappstein, Halle, 6.8.1922, 2 S., Ts. mit eU, Briefkopf PROF. DR. HANS VAIHINGER | GEH. REG.-RAT. | Halle a. S., den … 192… | Reichardtstr. 15, Deutsches Literaturarchiv Marbach, B:Vaihinger, Hans
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- Physical LocationDeutsches Literaturarchiv Marbach, B:Vaihinger, Hans
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Vaihinger an Theodor Kappstein, Halle, 6.8.1922, 2 S., Ts. mit eU, Briefkopf PROF. DR. HANS VAIHINGER | GEH. REG.-RAT. | Halle a. S., den … 192… | Reichardtstr. 15, Deutsches Literaturarchiv Marbach, B:Vaihinger, Hans
6.8.1922
Herrn Schriftsteller und Dozent Theodor Kappstein
Berlin-Charlottenburg
Sehr geehrter Herr Kappstein!
Das Erscheinen der Schrift von Spickerbaum[1] „Das Vaihingersche als Ob und die Methode der Formensprache in Religion und Theologie“, die ich Ihnen gleichzeitig zu übersenden mir gestatte, gibt mir Veranlassung, auf eine kurze Korrespondenz[2] zwischen Ihnen und mir im Jahre 1912 zurückzugreifen. Wie ich aus meinem Briefverzeichniss feststelle, haben Sie damals im September anlässlich meines 60. Geburtstages[3] mir etwas zugesendet, woraufhin ich Ihnen damals die Zusage machte, Ihnen von der „Philosophie des Als Ob“, deren erste Auflage 1911 erschienen war, und deren zweite eben in Vorbereitung war, ein Exemplar der zweiten Auflage zuzusenden oder zusenden zu lassen. Leider kann ich nun aus meiner Briefliste nachträglich nicht mehr konstatieren, ob ich dieses Versprechen gehalten habe, resp. ob seitens meines Verlegers Ihnen damals ein Exemplar zugestellt worden ist. Sollte es nicht der Fall sein, so bin ich in der Lage, Ihnen von der 7. und 6. Auflage, die vor kurzem erschienen ist, ein Exemplar zu senden. Übrigens unterscheidet sich die neueste Auflage, sowie die vorhergehenden nicht von der zweiten Auflage, deren Satz damals stereotypiert[4] worden ist, sodass also alle Auflagen gleich sind. Jedenfalls lege ich sehr grossen Wert darauf, dass gerade Sie als bekannter und verdienter Religionsphilosoph das Werk besitzen, und so bitte ich Sie um gefällige Nachricht darüber, ob Sie es damals erhalten haben.
Die kleine Schrift von Spickerbaum ist eine Frucht, die eben vielen anderen der Ph. d. A. O. entsprungen ist. Allerdings ist der Verfasser, der vom Standpunkt seiner Kirche[5] aus ein liberaler Modernist ist, vom Standpunkt der freien Philosophie aus noch recht eng gebunden an seine Religionsgemeinschaft. Aber angesichts der Tatsache, dass er durch diese Schrift seine Existenz aufs Spiel setzt[6], ist sie doch eine Mannestat[7], welche Anerkennung verdient, und so bitte ich Sie, sie auch in diesem Sinne aufzunehmen.
In Ihr Interessengebiet schlägt auch meine kleine Schrift über einen „Atheismusstreit“[8], die ich Ihnen gleichzeitig zugehen lasse, deren Ausführungen gerade für das Problem einer „modernen Theologie“ von Bedeutung sein dürften.
Auch darf ich vielleicht annehmen, dass meine Abhandlung[9] „Wie die Philosophie des Als Ob entstand“ Ihre Aufmerksamkeit erregen mag, zumal auch sie von religionsphilosophischen Fragen[a] ausgeht und in solche einmündet.
Dasselbe ist der Fall mit meinem kleinen Aufsatz[10] über den angeblichen „Skeptizismus“ der Ph. d. A. O., der in den „Annalen der Philosophie“ erschienen ist, deren Programm ich Ihrer besonderen Aufmerksamkeit empfehlen möchte.
Sollte meine Schrift über Nietzsche[11], die jetzt im Buchhandel fehlt, Ihnen nicht bekannt sein, so kann ich Ihnen noch ein Exemplar übersenden, denn auch diese gehört ins Gebiet der Religionsphilosophie, wenigstens indirekt.
Aus dem allen Schriftstellern bekannten Geburtstagskalender[12] ist es Ihnen wohl[b] längst bekannt geworden, dass im nächsten Monat, am 25.[c] Sept[ember] mein 70. Geburtstag stattfindet, den ich aber nicht hier in Halle verleben werde, sondern in Thüringen, zumal mich meine mehrmonatliche Krankheit veranlasst, dort Erholung und Kräftigung zu suchen. Da wohl anlässlich des genannten Tages die Zeitungen allerlei über mich bringen werden, so | liegt mir daran, dass gerade eine so bekannte literarische Persönlichkeit, wie Sie es sind, mit meinen Publikationen vertraut ist.
Was die Philosophie des Als Ob betrifft, so finden deren religionsphilosophische Partien ihren Vorgänger in Schleiermacher und auch schon in Herder, mit welch beiden[d] Sie sich ja näher beschäftigt haben. Besonders bei Schleiermacher und bei seinen Schülern, ferner bei De Wette u. A. findet das Als Ob in der Religion teils offen teils versteckt Anwendung und Geltung. Es gehört zur „Psychologie der Frömmigkeit“[13] dieses „Als Ob“, dessen Spuren ich schon bei den mittelalterlichen Mystikern nachgewiesen habe, und das[e] aber auch ebenso sehr im 18. Jahrhundert auftaucht, auch in der modernen Religiosität aufzuspüren. So enthält das bekannte Buch von Heiler[14][f] über das „Gebet“ manche Andeutungen darüber. Jedenfalls muss dieser Punkt noch näher untersucht werden[15]. Freilich wird sich dieses „Als Ob“ selbst der rein wissenschaftlichen Untersuchung leicht entziehen, und es ist wohl mehr eine Sache der Einfühlung, es bei dem Frommen zu entdecken.
Übrigens wird zu den beiden Als Ob Konferenzen von 1920 und 1922 im Jahre 1923 eine dritte[16] treten, und zwar dann unabhängig von der Kantgesellschaft. Diese Als Ob Konferenz wird mehrere Tage dauern, und sich auch besonders mit dem Problem der Religion beschäftigen.
Mit vorzüglicher Hochachtung
vaihinger
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Schrift von Spickerbaum ] vgl. Paul Spickerbaum [d. i. Josef Thomé]: Das Vaihingersche Als-Ob und die Methode der Formensprache in Religion und Theologie. München: Rösl & Cie. 1922 (Bausteine zu einer Philosophie des „Als-Ob“ Bd. 2).3↑anlässlich meines 60. Geburtstages ] vgl. Kappstein: Hans Vaihinger zum 60. Geburtstag, am 25. September. In: Reclams Universum. Weltrundschau vom 2.–8. September 1912 (Universum-Jahrbuch 1912, Nr. 35, Heft 50), S. 409–411.4↑deren Satz damals stereotypiert ] Stereotypie: Verfahren, beweglich gesetzte Druckseiten fest abzuformen und den Satzseiten genau entsprechende Druckplatten zu gießen; ermöglicht jederzeit den Druck neuer Auflagen von den durch sie erzeugten Platten (Meyers Großes Konversations-Lexikon Bd. 18 (1909), S. 947–948, http://www.zeno.org/nid/20007524854 (26.9.2024)).5↑seiner Kirche ] Paul Spickerbaum ist das Pseudonym von (Paul Hermann) Josef Thomé (1891–1980; Mädchenname der Mutter: Spickerbaum), aus Euskirchen, vgl. das Biogramm in: Dominik Heringer: Kirche im Konflikt. Das Bistum Aachen als Hotspot des Rheinischen Reformkreises. Freiburg im Breisgau: Herder 2022, S. 26, Anm. 24: ab 1912 Studium der Theologie in Bonn, ab 1915 im Kölner Priesterseminar, 1916 Priesterweihe in Köln. 1917 Kaplan in Krefeld, 1919 in Bonn und dort Promotionsstudium über die Philosophie des Als Ob, 1922 Scheitern der Promotion aufgrund eines negativen Zweitgutachtens, 1923 gescheiterter Versuch, den philosophischen Doktorgrad in Köln zu erlangen. 1924 Bundesleiter der „Kreuzfahrer“, 1926 Kaplan in Köln, 1928 in Mönchengladbach, 1936 siebenmonatige Gestapohaft, 1936 Pfarrer in Würselen-Morsbach. 1941 Gründung des Reformkreises, 1944 kommissarischer Bürgermeister von Morsbach, 1955 Gründungsmitglied der Aachener Gruppe der „Christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaft“. 1955 Indizierung des Buches „Der mündige Christ“, 1956 Gehorsamserklärung und Ablegung der professio fidei. 1967 Wiederveröffentlichung von „Der mündige Christ“, 1968 Gründung der Solidaritätsgruppe katholischer Priester und Laien im Bistum Aachen (SOG). 1970 Ehrenbürger Würselen, 1970 Ehrenpromotion zum Dr. theol. durch die katholische Fakultät der Universität Münster, 1972 Verleihung des Bundesverdienstkreuzes. 1975 Versetzung in den Ruhestand, gestorben in Würselen.6↑seine Existenz aufs Spiel setzt ] vgl. Heringer: Kirche im Konflikt (2022), S. 98–99 u. S. 107–109: Als Promotionsthema wählte Thomé die theologische Auseinandersetzung mit der philosophischen Schrift des bedeutenden Kantforschers und Philosophen Hans Vaihinger. […] Die Veröffentlichung inspirierte Thomé zu der Frage, wie der Mensch als denkendes Subjekt die Außenwelt „wahr“-nimmt bzw. die Vorstellung von der Außenwelt als übereinstimmend mit dem tatsächlich Bestehenden betrachtet werden kann. Eine solche Frage sei brennend, insbesondere in Bezug auf die religiösen und philosophischen Vorstellungen. […] 1922 hatte Thomé seine Promotionsschrift an der theologischen Fakultät in Bonn eingereicht, deren Beurteilung durch Erst- und Zweitgutachter jedoch völlig unterschiedlich ausfiel. Während Thomés Doktorvater [Arnold] Rademacher die Arbeit seines Schülers ausnahmslos positiv bewertete, war der Zweitgutachter Gerhard Esser […] völlig anderer Meinung. Thomés Arbeit sei „eine Erweichung der ganzen Dogmatik“. Eine theologische Promotion war durch das vernichtende Zweitgutachten unmöglich geworden. Dies warf nun erhebliche Fragen hinsichtlich der Veröffentlichung auf. Bereits 1921 hatte sich Vaihinger bereit erklärt, Thomés Arbeit in seine Sammlung „Bausteine zu einer Philosophie des Als-ob“ aufzunehmen. Nach der missglückten Promotion erwog Thomé zunächst, einige kritisierte Stellen des zweiten Teils wegzulassen, wurde aber von Vaihinger auf die Idee gebracht, seine Schrift unter einem Pseudonym zu veröffentlichen. Er könne seine „Schrift mit einem Pseudonym herausgeben, das womöglich recht bezeichnend wäre“, z. B. in „Analogie mit mittelalterlichen Bezeichnungen als ,Doktor Quaerens‘ auftreten als ,Suchender‘, oder in ähnlicher Weise“. Durch ein „solches Pseudonym, resp. Anonym“ könnte Thomé vielleicht seine „Gegner befriedigen“. […] Dieser Vorschlag bot eine zweifache Lösung für die entstandenen Schwierigkeiten. Zum einen wurde damit die Publikation des Textes ohne erhebliche Veränderungen möglich, zum anderen eröffnete die Veröffentlichung die Möglichkeit, wenn schon nicht den theologischen, so doch den philosophischen Doktorgrad zu erwerben. Diese Lösung fand die sofortige Unterstützung Vaihingers: „Die Lösung, die Sie gewählt haben, Ihr Buch pseudonym erscheinen zu lassen, ist die glücklichste, und wird allen Teilen gerecht. Merkwürdig ist ja das Schisma in der Bonner theologischen Fakultät, und so ist es nicht zu verwundern, dass auch die anderen Kreise getrennter Meinung sind. Sie werden allen gerecht durch die gewählte glückliche Lösung. Ebenso werden Sie uns, den Herausgebern und dem Verleger der ,Bausteine‘ dadurch gerecht.“ […] Sein positives Fazit, dass nun Thomé allen gerecht geworden sei, sollte sich aber als Trugschluss herausstellen. Mit der Einreichung der Promotionsschrift an der philosophischen Fakultät der Universität Köln musste Thomé die kirchliche Erlaubnis zur Promotion beim Erzbischof von Köln erbitten […] die Verweigerung der Promotionserlaubnis durch Kardinal Schulte war das Ergebnis (Briefzitate nach den im Nachlass Thomé befindlichen Schreiben Vaihingers vom 30.10.1921, 9.1.1922 u. 30.1.1922).7↑eine Mannestat ] vgl. Raymund Schmidt an Josef Thomé, Leipzig, 28.1.1922; Nachlass Thomé, zitiert nach Heringer: Kirche im Konflikt (2022), S. 109–110, Anm. 262: Ihr Entschluss hat mich sehr gefreut. Sie bekunden so einen intellektuellen Mut, der mir Hochachtung abnötigt. Mit Ihren Änderungen bin ich ganz einverstanden, und ich werde Alles tun, um von uns aus ein Ihnen lästiges Aufsehen zu vermeiden. Ihr Pseudonym wird geschützt.8↑„Atheismusstreit“ ] vgl. Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob und das Kantische System gegenüber einem Erneuerer des Atheismusstreites. In: Kant-Studien 21 ([1916]/1917), S. 1–25. – Dass. in: Vaihinger (Hg.), mit Bruno Bauch: Kant-Studien Bd. XXI. Heft 1. Fest-Heft zu Rudolf Euckens 70. Geburtstag. Redaktionsschluss am 15. Dezember 1915. Ausgegeben am 5. Januar 1916. Berlin: Reuther & Reichard 1916, S. 1–25. – Sonderdruck u. d. T.: Der Atheismusstreit gegen die Philosophie des Als Ob und das Kantische System. Berlin: Reuther & Reichard 1916. 32 S.9↑meine Abhandlung ] vgl. Vaihinger: Wie die Philosophie des Als Ob entstand. In: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen Bd. 2. Hg. v. Raymund Schmidt. Leipzig: Meiner 1921, S. 174–203.10↑kleinen Aufsatz ] vgl. Vaihinger: Ist die Philosophie des Als Ob Skeptizismus? In: Annalen der Philosophie. Mit besonderer Rücksicht auf die Probleme der Als Ob-Betrachtung 2 ([1920]/1921), S. 532–537.11↑Schrift über Nietzsche ] vgl. Vaihinger: Nietzsche als Philosoph. Berlin: Reuther & Reichard 1902 u. ö.12↑Schriftstellern bekannten Geburtstagskalender ] Seitenhieb auf die im Vergleich zu Degeners Wer ist’s? sehr knapp gehaltenen Angaben in: Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1922. Hg. v. Gerhard Lüdtke u. Erich Neuner. 40. Jg. Berlin/Leipzig: de Gruyter 1922 (d. i. der letzte Jg. vor der Teilung in einen Literatur- und einen Gelehrten-Kalender), vgl. dort den Eintrag Sp. 902: Vaihinger, Hans, Kantforschung, [hier drei Asterisken als Zeichen für Philosophie], Dr. phil, o. UP. a. D., GRegR. Halle a. S., Reichardtstr. 15 (Nehren 25/9 52.) V: s. LK. 17 [lies: Verfasser: siehe Literatur-Kalender 1917].13↑„Psychologie der Frömmigkeit“ ] vgl. Kappstein: Psychologie der Frömmigkeit. Studien und Bilder. Leipzig: Heinsius 1908.14↑Buch von Heiler ] vgl. Friedrich Heiler: Das Gebet. Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung. München: Reinhardt 1918 u. ö.15↑näher untersucht werden ] vgl. Vaihinger an Karl Girgensohn vom 21.9.1922 sowie die Antwort Girgensohns vom 7.10.1922.16↑1923 eine dritte ] eine dritte Als-Ob-Konferenz fand erst zu Pfingsten 1925 statt, vgl. Vaihinger an Karl Girgensohn vom 23.5.1925.▲