Bibliographic Metadata
- TitleHugo Höppener (Fidus) an Vaihinger, Woltersdorf bei Erkner, 3.4.1921, 6 S., hs., am linken Seitenrd. durchgehend Lese-Markierungen mit Bleistift- und Blaustiftkringeln (nur in signifikanten Fällen mitgeteilt), Briefkopf Verlagssignet mit Beischrift StGgBd, VERLAG DES ST. GEORGS-BUNDES | WOLTERSDORF BEI ERKNER NÄCHST BERLIN | Drahtung: Fidus, Woltersdorf-bei-Erkner | Postcheckconto: Berlin MW 7, 20266, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 8 h
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 8 h
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Hugo Höppener (Fidus) an Vaihinger, Woltersdorf bei Erkner, 3.4.1921, 6 S., hs., am linken Seitenrd. durchgehend Lese-Markierungen mit Bleistift- und Blaustiftkringeln (nur in signifikanten Fällen mitgeteilt), Briefkopf Verlagssignet mit Beischrift StGgBd, VERLAG DES ST. GEORGS-BUNDES | WOLTERSDORF BEI ERKNER NÄCHST BERLIN | Drahtung: Fidus, Woltersdorf-bei-Erkner | Postcheckconto: Berlin MW 7, 20266, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 8 h
3. Ostermond (IV.) 21
Hochverehrter Mitstreiter!
Ich kann Sie nicht mit Ihren großen Titeln und Würden anreden – dazu sind Sie mir zu lieb, und – ich habe es schon zu sehr um alle Form mit Ihnen verdorben!
Aber von Ihnen hoffe ich, dass Sie es richtig verstanden,[a] wenn ich auf Ihre warme Widmung zu meinem 50. Geburtstag[1] nicht „rasch und unbesehen“ nach Diplomatenart mit einem „Dank“ reagirte. Das ist so klug wie billig! –
Und doch verdirbt man sich wohl manche Freundschaft, wenn man als Schicksalsmensch die „ruhige Stunde“ zu | allem Besonderen abwarten muss. Und das ist bei mir so arg, dass ich besonders meine „Lesepflichten“[b] bei meinen zu schonenden Augen[c] (s[iehe] beiliegende Klagekarte[d]) oft jahrelang vor mir herschieben muss, um wenigstens dann und wann mal an meinen Beruf zu kommen. Oft gebe ich, nach flüchtigem Einblick mit freudiger Genugtuung die Schriften Andern, damit sie recht vielen zu Gute kommen, ehe ich zum Lesen komme, oder lass es mir dann sagen. Aber Ihren Nietzsche[2] las ich selbst, und bin Ihnen dankbar, dass Sie mein schiefes Urteil[e] über ihn in freudigen Einklang[f] verwandelt haben; denn Sie schälten den Geist heraus, aus welchem ich von jeher[g] selber geschaffen habe: „über uns hinaus“! Freilich habe ich z. B. den Zarathustra | schon[h] 1890 mit Begeisterung aufgenommen, aber Nietzsches mehr polemische Schriften und Wendungen verrieten mir doch zuviel Lust am Verneinen ja Verhöhnen, als dass ich ihnen immer hätte zustimmen mögen. Ja ich sah schliesslich in dieser gewohnheitswerdenden Sucht zur Ablehnung und Verneinung auch seines eigenen Früheren die selbstzerstörenden Keime des Krankhaften, dem sein „Geist“, d. h. sein Gehirn schliesslich zum Opfer fiel. Dahin rechne ich auch seinen immer krasser werdenden Diesseits-Materialismus der aller tiefsten Filosofie[i] nicht nur faktisch sondern praktisch ins Gesicht schlägt und zu solchen mechanischen Denkfolgerungen kommt wie der stereotypen „Wiederbringung aller Dinge“. Feinste Weisheit wird sich hüten, über die letzten Möglichkeiten etwas auszusagen, da sie so unumfassbar sind wie „Zeit u. Raum“ und | alle[j] Grenzenlosigkeiten. Das ist geistiger Größenwahn u. bei ihm dito Sadismus geworden; vielleicht Selbstquälerei – kurz Krankheit. –
Ich fühlte mich tief verstanden, dass Sie mich einen Denker nannten – ich fordere ja auch, dass der Künstler wenigstens[k] ein Dichter sei, um sich überhaupt Künstler nennen[l] zu dürfen – aber doch würde ich mir nie anmaßen über die „letzten Dinge“ etwas auszusagen; und das[m] trotzdem, oder weil ich „nun ach auch Theosophie und alle Hinterwissenschaften mit heißen Bemühen studirt“[3] habe und Kants Begrenzungen nie respektiert.
Aber was jeder vom Weltbild sieht und übersieht ist doch nur sein „Lustrevier“[4] wie Nietzsche mit Wilhelm Busch sagen würde, oder seine „Umwelt“, wie Uexküll sagt[5], auf die er einorganisirt ist. (Das bräuchte kein Einstein erst zu relativieren!) Und weil ich das früh durchschauend eingesehen | habe[n], gab ich mich schon[o] bald der lebensfrohen Verachtung des Spiritismus hin und „schuf“ und lebte nur immer was der Instinkt – oder wie Nietzsche meinte „Leib“ – gebot. Und behauptete immer schon, dass nicht die beeinflusste Vernunft, sondern der unwillkürliche Instinkt die Stimme und der Schaffenswille „Gottes“ ist. Dabei antropoposirte[p] ich meinen Gott auch nicht vergnügt zum[q] Schöpfer aller Milchstrassen und Geisterhierarchien der Mysterienweisen, sondern begnügte mich in bescheidener Anmaßung[r] mit meinem[s] „höhern Ich“, das ja einer dieser „urgeschaffenen Geister“ sein muss. Und ich meine, dass alle die Gotterlebnisse der „Frommen“ oder auch der Okkultisten noch[t] nichts weiter sind als die Einblicke und Erweckungen des Hirnintellektes in die höhere Ichgestalt der „ewigen“ Seele, die in Wiederverkörperungen durch die Schultage des Erdenleben[u] geht, selbst beruhend in einem ätherischen Kraftleibe von räumlicher Wirklichkeit, der nur unserm Auge noch nicht sichtbar, unsern Nerven und „Gefühlen“ aber – nach Rang u. Würden, oft gewaltig verspürbar wird. | Solche[v] „räumlichen und zeitlichen Wirklichkeiten“ und beileibe keine abstrakten Begriffe und Allegorien[w] meine ich auch, wenn ich mich in meinem weniger bekannten, von jeher „expressionistisch“ zu nennendem Gestalten in Seelengebilden und farbigen Kraftlinien ausdrücke. Aber ich muss der Wahrheit die Ehre geben und, bekennen, dass ich solche Vorstellungen nicht aus leiblichem Hellsehen, ja auch nicht allein aus fühlendem Denken, sondern unter helfendem Studium der neuern „theosophischen“ Forschungen, die[x] von wissenschaftlich vorgebildeten und dann noch praktisch geschulten Hellsehern gruppenhaft und vergleichend getrieben wurden, entwickelt habe. –
Na, und nun ist es „des Frevels Wort“[6] gesprochen und ich bin gespannt, ob Sie mich nun noch für einen Denker halten. Jedenfalls aber doch für einen „durch und durch“ aufrichtigen Kerl! – vor allem aber nehmen Sie mich als Ihren Sie warmschätzenden
Fidus
Zugleich einige Drucksächlein[7]. Was Alwine v. Keller da „Als Ob“ | gesagt[y] hat[8], war ganz ahnungslos von Ihrer Filosofie – um so schöner nicht wahr? Natürlich besitze ich diese nicht und würde auch schwer Zeit | finden sie gründlich zu lesen – aber ich kann sie mir so „lebhaft vorstellen“ und billige sie von Herzen! Albert Ritter[9] u. Blüher[10] sah ich | es zu meiner Freude auch tun. – Inzwischen habe ich in Halle mehrmals Lichtbild-Vorträge gehalten und habe es leider versäumen | müssen, Sie dazu besonders einzuladen – das geht immer so halsüberkopf[z]. Da hätten sie meine „Seelenleiber“ gesehen! –
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
3↑„nun ach auch Theosophie und alle Hinterwissenschaften mit heißen Bemühen studirt“ ] Anspielung auf Goethe, Faust I, Vers 354–359.5↑„Umwelt“, wie Uexküll sagt ] vgl. Jakob Johann von Uexküll: Umwelt und Innenwelt der Tiere. Berlin: Springer 1909.8↑gesagt hat ] 1918 war mit Illustrationen von Fidus erschienen: Alwine von Keller: Ein Zwiegespräch. Hg. vom St. Georgs-Bunde, Woltersdorf bei Erkner. Woltersdorf bei Erkner: Fröb 1918.9↑Albert Ritter ] 1872–1931, Journalist und Schriftsteller (https://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_R/Ritter_Albert_1872_1931.xml (25.9.2024)).10↑Blüher ] gemeint ist vermutlich Hans Blüher (1888–1955), Schriftsteller (https://d-nb.info/gnd/118664034 (25.9.2024)).▲