Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Fritz Mauthner, Halle, 6.9.1920, 2 S., Ts. mit eU, hs. Ergänzungen von anderer Hd., Briefkopf PROF. DR. HANS VAIHINGER | GEH. REG-RAT. | Halle a. S., den … 19… | Reichardtstr 15, Leo Baeck Institute New York, Fritz Mauthner Collection, https://archive.org/details/fritzmauthner_08_reel08/page/n688/mode/1up (S. 689–725)
- Creator
- Recipient
- Participants
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationLeo Baeck Institute New York, Fritz Mauthner Collection
- URN
- Social MediaShare
- Archive
- ▼
Vaihinger an Fritz Mauthner, Halle, 6.9.1920, 2 S., Ts. mit eU, hs. Ergänzungen von anderer Hd., Briefkopf PROF. DR. HANS VAIHINGER | GEH. REG-RAT. | Halle a. S., den … 19… | Reichardtstr 15, Leo Baeck Institute New York, Fritz Mauthner Collection, https://archive.org/details/fritzmauthner_08_reel08/page/n688/mode/1up (S. 689–725)
6.9.1920
Herrn Dr. Fritz Mauthner, Meersburg.
Hochgeehrter Herr Dr.!
Da nunmehr Ihre Geschichte des Atheismus schon im 1. Bande erschienen ist[1], wozu ich Sie unter den heutigen schwierigen Umständen besonders herzlich beglückwünsche, so erinnert mich das daran, dass ich selbst vor einigen Jahren eine kleine Schrift[2] über einen Atheismusstreit gegen die Philosophie des Als Ob geschrieben habe, die ich aber jedenfalls der Sicherheit halber Ihnen übersenden möchte. Denn in der Kriegszeit wurde ja leicht das Erscheinen einer solchen Broschüre übersehen. Es liegt mir aber natürlich sehr viel daran, dass dieser Atheismusstreit auch in Ihrer Geschichte des Atheismus im letzten Teile zur Sprache kommt, was ja schon der Vollständigkeit halber Ihnen selbst wünschenswert sein muss, was mir selbst aber persönlich von höchstem Werte ist.
Der Name „Atheimusstreit“ knüpft an den bekannten Fichteschen Atheismusstreit an, dessen Entstehung und Entwicklung Sie ja natürlich gründlich kennen. Im Schlussteil meiner „Philosophie des Als Ob“ habe ich ja selbst[a] zu der Geschichte und zum Verständnis jenes Fichte-Forberg’schen Falles einiges Neues beigetragen. Übrigens besitze ich persönlich eine wertvolle Sammlung von zeitgenössischen Broschüren[3] zu jenem berühmten Streitfall, doch hat Herr Geh. Hofrat Professor Dr. Heinrich Rickert in Heidelberg, Scheffelstr. eine vollständigere Sammlung[4]. Denn ich selbst habe seit dem Beginn meines Augenleidens d. h. seit 1904 meine Sammlung nicht fortgesetzt.
Mit Ihrer Geschichte des Atheismus haben Sie sich ein[b] sehr schönes Thema vorgesetzt, und es ist nur zu wünschen, dass das Schicksal Ihnen vergönnen möge, dieses gross angelegte Werk zu vollenden, dessen Veröffentlichung ein wirkliches Verdienst und ein tatsächliches | Bedürfnis ist.
Im Anschluss an Ihren letzten Brief[5] an mich darf ich Ihnen noch über die Organisation der Kantgesellschaft Folgendes mitteilen: zwischen der Kantgesellschaft und den „Kantstudien“ ist ein grosser Unterschied zu machen. Die Zeitschrift wird zwar von der Kantgesellschaft unterstützt, aber nach den Satzungen der K. G. steht die Redaktion der K. St. ganz unabhängig und kann[c] darum in Bezug auf den Inhalt nicht von der K. G. beeinflusst werden. Die K. St. habe ich selbst gegründet und stehe als Begründer immer auf dem Titel der Zeitschrift, aber die wirkliche verantwortliche Redaktion führte früher Professor Bauch, jetzt Frischeisen-Köhler (nebst Prof. Liebert). Nach dem Vertrag zwischen mir und Prof. Bauch, in welchem Vertrag[d] später Prof. Frischeisen-Köhler eingetreten ist, habe ich selbst in die Redaktion nicht hineinzureden, die betreffenden Herren haben nur die Pflicht, bei wichtigen Angelegenheiten mich um Rat zu fragen. So habe ich also selbst die verantwortliche Redaktion seit etwa 20 Jahren an Andere abgegeben, und habe keinen bestimmten Einfluss mehr.
Was nun die verantwortlichen Redakteure selbst betrifft, so haben diese gerade in Bezug auf die Recensionen[e] neuer Werke eine ganz besonders schwierige Stellung: übergibt man ein neues Werk einem Recensenten[f] so nimmt dieser das Recht in Anspruch, über das neue Werk seine sog. wissenschaftliche Ansicht zum Ausdruck zu bringen. Hat nun der Redakteur aber z. B. die Meinung, dass der Recensent[g] dem neuen Werke nicht gerecht geworden sei, so hat er gar keine Handhabe gegen den Recensenten und kann eventuell in schwere Konflikte mit solchen Recensenten kommen. Als ich die K. St. noch selbst redigierte am Anfang 1896, hatte ich selbst einen solchen schweren Fall[6], als ein sehr namhafter[h] Recensent einem Buche von Kronenberg nicht gerecht wurde. So kommt es, dass der Redakteur eventuell genötigt ist eine missgünstige Recension gegen seine eigene bessere Überzeugung abzulehnen. Um dies zu vermeiden, lässt ein Redakteur gelegentlich lieber ein neues Buch unbesprochen[7], denn er soll ja als objektiver Schriftleiter die Recensionen weder positiv noch negativ beeinflussen.[i]
So[j] kann es kommen, daß zwischen einem Redakteur als Schriftleiter einer Zeitschrift u. als Mensch eine Differenz entsteht resp. zu entstehen scheint.
Mit herzlichem Gruß Ihr ergebener
Vaihinger[k]
Kommentar zum Textbefund
g↑Recensent ] Recenzent; die analogen Verschreibungen dieses Wortes bzw. dieser Wortfamilie werden im Anschluss nicht mehr eigens mitgeteilt.Kommentar der Herausgeber
2↑kleine Schrift ] vgl. Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob und das Kantische System gegenüber einem Erneuerer des Atheismusstreites. In: Kant-Studien 21 ([1916]/1917), S. 1–25. – Dass. in: Vaihinger (Hg.), mit Bruno Bauch: Kant-Studien Bd. XXI. Heft 1. Fest-Heft zu Rudolf Euckens 70. Geburtstag. Redaktionsschluss am 15. Dezember 1915. Ausgegeben am 5. Januar 1916. Berlin: Reuther & Reichard 1916, S. 1–25. – Sonderdruck u. d. T.: Der Atheismusstreit gegen die Philosophie des Als Ob und das Kantische System. Berlin: Reuther & Reichard 1916. 32 S. Gerichtet gegen: Hugo Bund: Kant als Philosoph des Katholizismus. Berlin: Carl Hause 1913.4↑vollständigere Sammlung ] vgl. Heinrich Rickert an Vaihinger vom 30.7.1899 sowie thematisch passend Heinrich Rickert: Fichtes Atheismusstreit und die Kantische Philosophie. Eine Säkularbetrachtung. In: Kant-Studien 4 ([1899]/1900), S. 137–166. – Wilhelm Windelband, dem Rickert 1916 auf dessen Heidelberger Lehrstuhl gefolgt war, hatte ebenfalls eine Sammlung von Werken von und über Fichte zusammengetragen, wie 1921 (!) bekannt wurde, vgl.: Eine Fichte-Sammlung beschrieben von Friedrich Meyer. Mit einer Einführung von Universitäts-Professor Dr. Ernst Bergmann-Leipzig. Leipzig: Friedrich Meyers Buchhandlung 1921. VIII, 94 S., 624 Nummern: Das vorliegende Verzeichnis bietet eine bibliographisch genaue Beschreibung einer im Laufe von mehreren Jahren zusammengetragenen Fichte-Sammlung. Der Grundstock stammt aus der Bibliothek des Heidelberger Philosophen Windelband (S. III; Meyer). Es handelt sich somit um eine angereicherte Sammlung, wie sie Friedrich Meyer z. B. auch für Goethe anbot: Nur wer das allmähliche Entstehen dieser Sammlung seit dem Jahre 1915 miterlebt hat, weiß, welch mühvolle Vorarbeit dem eigentlichen Forscher hier durch die sachkundige Hand des Antiquars abgenommen worden ist (S. IV, Bergmann). Die 59 Stücke umfassenden Nummern 30–88 dieses Kataloges gehören zum Atheismusstreit. Ob womöglich Vaihingers Sammlung hierin eingegangen ist, lässt sich nicht feststellen. Vom Leipziger Antiquariat Bernhard Liebisch (vgl. Vaihinger an Mauthner vom 6.10.1920) ist kein darauf bezogener Katalog ermittelt. Über Windelbands Sammlung erschien noch: J. G. Fichte. Eine Sammlung von Werken von und über ihn. Mit einer Einführung von Universitäts-Professor Dr. Ernst Bergmann-Leipzig. Angeboten von der Buchhandlung Gustav Fock Leipzig. o. J. VIII, 94 S. Das ist bis auf Titulatur und Vorbemerkung identisch mit dem obigen Meyerschen Fichte-Katalog – unter Unterschlagung der Autorschaft Meyers, der in der Inflationszeit der 1920er gezwungen war, seine Bestände an die Leipziger Buchhandlung Gustav Fock zu verkaufen (Erich Carlssohn: Lebensbilder Leipziger Buchhändler. Meersburg: List & Francke 1987, S. 55–99). 1922 erschien eine Rezension des Meyerschen Fichte-Kataloges von E. Hirsch, Göttingen, in: Theologische Literaturzeitung 47 (1922), Sp. 206. 1926 erschien eine weitere Rezension anonym in: Revue de Métaphysique et de Morale 33 (1926), S. 11, mit der Nachricht, die Sammlung sei an das Marx-Engels-Institut Moskau verkauft worden. Das bestätigt die Selbstauskunft des Institutes in: Marx-Engels Archiv 1 [1926], S. 448–460: Die Bücherbestände des Instituts kamen auf verschiedene Weise zusammen. Von den Ankäufen im Auslande, die von Anfang an in großem Umfange betrieben wurde, ist von besonderer Wichtigkeit die Erwerbung von mehreren großen Spezialsammlungen: […] die Fichte-Bibliothek von Windelband […] die Fichte-Literatur, deren Grundstock die oben erwähnte Windelbandsche Sammlung bildet, umfaßt gegen 800 Titel (S. 448–449, S. 453 – d. h. ca. 200 Nummern mehr als der Meyersche Katalog). Diese Sammlung erwähnende Berichte von Besuchern des Instituts finden sich bei Georg Lenz: Das Marx-Engels-Institut in Moskau. In: Historische Zeitschrift 137 (1928), S. 498–501 sowie bei Egon Erwin Kisch: Zaren, Popen, Bolschewiken. 1.–10. Tsd. Berlin: Erich Reiss 1927, S. 133). Der Verbleib ist nicht ermittelt (das Institut wurde 1991 geschlossen und seine Bestände in andere Archive überführt).6↑einen solchen schweren Fall ] vgl. Vaihinger: Zusatz des Herausgebers [zu Adickes’ Rezension über: Kronenberg: Kant. Sein Leben und seine Lehre, München 1897]. In: Kant-Studien 2 ([1897]/1898), S. 488–450.7↑Buch unbesprochen ] in der Zeitschrift Kant-Studien erschien zu dessen Lebzeiten keine Rezension von Werken Mauthners, erst in Kant-Studien 30 (1925) erschien S. 201–202 eine Besprechung von: Die Geschichte des Atheismus im Abendlande (Willy Lüttge). – In: Kant-Studien 26 (1921), S. 510–511 erschien ein Bericht über die Gründung der Ortsgruppe Meersburg der Kantgesellschaft unter Beteiligung Mauthners u. a. mit den Worten: Wir begrüßen die Mitarbeit von Herrn Fritz Mauthner, der sich mit ungeminderter Kraft in dem Idyll des „Glaserhäusles“ bei Meersburg dem Abschluß seiner sprachkritischen Untersuchungen widmet, mit Freude und Genugtuung.▲