Bibliographic Metadata
- TitlePaul Natorp an Vaihinger, Marburg, 17.11.1919, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 1 b, Nr. 10
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 1 b, Nr. 10
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Paul Natorp an Vaihinger, Marburg, 17.11.1919, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 1 b, Nr. 10
Marburg 17.11.19.
Verehrter Herr Kollege!
Es wird Zeit, daß ich Ihren Brief vom 5.[1] d[es] M[onats] beantworte. Ich mußte mir die Sache noch erst etwas im Kopf herumgehen lassen, denn Sie werden begreifen, daß ich eine gewisse Scheu hege, als Komponist[2] vor eine (wenn auch beschränkte) Öffentlichkeit zu treten, da ich auf diesem Felde doch am Ende Dilettant u. mir mancher Schwächen selber sehr wohl bewußt bin – Schwächen, die ich am Ende überwunden hätte, wenn ich anders als in seltnen, oft durch weiten Abstand getrennten, stets spärlichen Ferientagen mich dieser geheimen Liebe hätte widmen können. Zumal einem Kreise, der zum Philosophieren zusammengekommen ist, meine Musik vorzusetzen, könnte manchem nicht ganz das Richtige zu sein scheinen. Auf der anderen Seite muß ich mich fragen, ob ich den nun doch einmal zum Leben geborenen Kindern dieser heimlichen Liebe die bescheidene Lebensmöglichkeit, die sich hier für sie bietet, abschneiden darf, zumal der feine M. Frey[3] (den ich durch meinen Sohn[4], welcher seinerzeit als Hallenser Student bei ihm Stunden nahm, kennen gelernt habe) sich ihrer so liebenswürdig annimmt.
Ich komme nun zu dem Schluß, daß Ihr Gedanke so am ehesten ohne Bedenken zu verwirklichen wäre, daß ich nicht mit dieser Beigabe allein, sondern auch, u. zwar hauptsächlich, mit einer philosophischen Gabe[5] käme. Und das wäre mir, u. vielleicht auch andern, noch aus andern Gründen nicht unwillkommen. Es ist nämlich durch manches in m[einen] letzten Schriften (mehr darüber bringt die neueste, eben fertig gedruckte, aber noch nicht erschienene Schrift „Sozialidealismus“[6] in den letzten 2 Kapiteln), auch durch Arbeiten meiner Schüler, bekannt geworden, daß ich seit einigen Jahren schon an einem vollständigen Umbau meiner Philosophie | arbeite. Soeben noch hat Hans Blüher in der „Tat“[7], auf ein Gerede hin, daß ihm hier bei Gelegenheit eines Vortrags entgegengetreten sein mag, urbi et orbi verkündet, der „alte ehrwürdige Natorp“ habe alle seine bisherigen Schriften „verleugnet“ etc. (Es ist also Verleugnung wenn man als alter Herr nicht mehr auf demselben Fleck steht wie vor 25 Jahren!). Da fühle ich – da eine voll genügende Darstellung meiner neuen Philosophie, obgleich diese in den Grundlinien mir jetzt schon ziemlich klar vor Augen steht, in der genauen Ausführung doch noch einige Zeit brauchen wird – selbst das Bedürfnis von meinem neuen Gedanken soviel bekanntzugeben, als hinreicht, Mythenbildungen darüber entgegenzutreten. Und dazu gäbe es ja keine schönere Gelegenheit als eine Tagung der Kantges[ellschaft], zumal ich dieser schon früher über Kant u[nd] d[ie] Marb[urger] Schule Rechenschaft gegeben[8] habe. Ich würde, außer einer kurzen Darlegung des systematischen Grundplans, einiges im besondern ausführen über m[einen] Begriff der Poietik (Schaffensphilos[ophie]), die ich als 3tes Systemglied[a] neben Theoretik u. Praktik stelle (Ästh[etik] o[der] Kunstphilos[ophie] ist nur ein Teil davon); ich würde daran anschließend[b] vielleicht auch noch meine neue Stellung zum Religionsproblem in Kürze darlegen; um auf der einen Seite der immer noch vorwaltenden Auffassung entgegenzutreten, als ob ich oder überhaupt die „Marburger Schule“, alles einem starren Rationalismus unterjochen wolle, der vor allem der Kunst und Religion nicht gerecht werde,[c] auf[d] der andern schiefen u. übertriebenen Vorstellungen über meinen neuen Irrationalismus vorzubauen.
Nun werden Sie wahrscheinlich schon einen Vortragenden für die Tagung ins Auge gefaßt, vielleicht darüber schon abgeschlossen haben. Aber Sie schreiben | von einer geplanten Erweiterung dieser Tagungen überhaupt. Da wäre es am Ende nicht ausgeschlossen, zwei größere Vorträge (sei es Vor- u. Nachm[ittags] o[der] an 2 aufeinanderfolgenden Tagen) zu bringen, u. dann an einem mehr der Geselligkeit u. persönl[ichen] Aussprache gewidmeten Tage unter anderm auch[e] das Konzert, etwa als Matinée folgen zu lassen[f]. Es mag paradox erscheinen, daß ich, aus Bescheidenheit, nicht einmal sondern zweimal auftreten will, aber ich habe umgekehrt das Gefühl: wenn ich nur als Musiker komme (der ich doch nur sehr nebenbei auch bin), es eher als eine Art persönlicher Ehrung erscheint, als wenn dies eben nur eine Zugabe zu einer rechtschaffenen philosophischen Leistung sein will, die insofern sich an diese gut anschlösse, als sie mein inneres Verhältnis zur Kunst eben auch von dieser (allerdings persönlichen) Seite zum Ausdruck bringt.
Sollten Sie aber auch nur den Schimmer dieses Bedenkens haben, als ob dies zweifache Auftreten wenigstens einen Schein von Unbescheidenheit haben könnte – oder sollte überhaupt der ganze Gedanke mit Ihren Dispositionen sich schwer vereinigen lassen, so bitte ich Sie es mir ohne alle Umstände zu sagen. Ich bemerke noch, daß für die Osterzeit mir allerdings noch etwas andres in Aussicht[9] steht; genauere Zeitbestimmung erfuhr ich noch nicht, möglich aber, daß es ohnehin nicht kollidiert. Sie selbst schwankten ja noch zwischen Ostern u. Pfingsten, u. vielleicht[g] sprechen eher für den späteren Termin die Kohlennöte[h]. Aber all dergleichen ist ja überhaupt voraus unberechenbar; wer weiß ob nicht für die Pfingstwoche[10] grade der Verkehr ganz gesperrt wird.[i] Schwierig genug wird eins wie das andre sein. Hoffentlich überstehen wir alle, selbst wir Alten, die üble Zeit noch leidlich. Gesundheitlich geht es mir noch immer über Erwarten gut, ich habe kaum je so arbeiten können wie in diesen | schweren Jahren[11]; es ist nur viel zu viel, was ich noch schaffen möchte u. könnte. Anders käme ich auch nicht darüber weg, denn noch hat unser armes Land und Volk das letzte der Not nicht ausgekostet.
Mit bestem Gruß Ihr
P. Natorp.
Kommentar zum Textbefund
a↑Systemglied ] mit Bleistift unterstrichen, am rechten Rd.: ?; über das Wort mit Blaustift von anderer Hd. geschrieben: Systemgliedh↑Kohlennöte ] mit Bleistift doppelt unterstrichen sowie am linken Rd. mit Bleistiftkringel markiertKommentar der Herausgeber
1↑Ihren Brief vom 5. ] nicht überliefert; dem Kontext nach eine Einladung Vaihingers an Natorp, sich mit der Aufführung eigener Musik an der Gestaltung der Jahresversammlung der Kantgesellschaft zu beteiligen, s. u.2↑als Komponist ] vgl. Maximilian Abich: Kant-Gesellschaft. Bericht über die Allgemeine Mitgliederversammlung. (Generalversammlung) am Sonnabend, d. 29. und Sonntag, d. 30. Mai 1920. In: Kant-Studien 25 (1920), S. 470–477: Am Sonnabend, d. 29. und Sonntag, d. 30. Mai fand in Halle a. S. die satzungsmäßige Generalversammlung der Kant-Gesellschaft statt. Fünf Jahre hindurch hatten der Krieg und die durch ihn herbeigeführten Verhältnisse die Abhaltung der allgemeinen Mitgliederversammlung verhindert; so konnten wir zum erstenmal seit 1914 in diesem Jahre wieder zusammenkommen. Für die Entwicklung der Kant-Gesellschaft sind diese fünf Jahre von größter Bedeutung gewesen. […] Dieser Sachlage wollte die Geschäftsführung dadurch Rechnung tragen, daß sie eine Tagung von Donnerstag, den 27. bis Sonntag, den 30. Mai beabsichtigte und diese Tagung zu einem allgemeinen philosophischen Kongreß auszubauen gedachte. Aber die Verhältnisse erwiesen sich als stärker als diese Absicht. Die Schwierigkeiten der Reise und Unterbringung, vor allem auch die allgemeine Teuerung hätten einem großen Teil der Mitglieder einen mehrtägigen Aufenthalt in Halle unmöglich gemacht, und so sah sich die Geschäftsführung genötigt, die Versammlung auf Sonnabend Abend und Sonntag zu beschränken. Eine gewisse Erweiterung wurde dadurch gegeben, daß eine Anzahl von Freunden des Idealismus im Sinne der „Philosophie des Als Ob“ am Sonnabend eine Konferenz abhielten. […] Ein Bericht über die „Als Ob-Konferenz“ findet sich in Bd. II, Heft 4 der „Annalen der Philosophie“, herausgegeben von Hans Vaihinger und Raymund Schmidt. […] So war der Besuch doch ein recht guter (etwa 250 Teilnehmer), was auch dadurch ermöglicht wurde, daß eine Reihe von Mitgliedern und Professoren in Halle, außerdem noch andere, dort ansässige Familien Zimmer für die Teilnehmer umsonst oder mäßigen Preisen zur Verfügung gestellt hatte. Herr Priv.-Doz. Dr. Wichmann hatte die Verteilung der Zimmer und die Unterbringung in seiner Hand […] f) Eine Reihe von Persönlichkeiten, die sich teils um die Philosophie überhaupt, teils um die Kant-Gesellschaft besondere Verdienste erworben haben, wurde auf Vorschlag der Geschäftsführung zu Ehrenmitgliedern er wählt. Es sind dies die Herren: Eucken (Jena), Troeltsch, Riehl, Stammler (Berlin), Natorp (Marburg), Volkelt (Leipzig), Güttler (München), Höfler (Wien), Höffding (Kopenhagen), Geijer und Söderblohm (Upsala), Liljequist (Lund), Agathon Aall (Christiania) [vermutlich gemeint: Anathon Aall (1867–1943; https://www.catalogus-professorum-halensis.de/aallanathon.html (19.6.2024))], Heymans (Groningen), Sidler-Brunner (Luzern). […] e) Alle diese Miszellen bildeten gleichsam nur den Auftakt zu dem mit größter Spannung erwarteten Vortrag [am 30.5.1920] von Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Paul Natorp (Marburg): „Die Fortbildung des kritischen Idealismus, Rückblick und Vorblick.“ Der Vortrag bildet einen Teil eines größeren Werkes, in dem Natorp seine Fortbildung des Kritizismus niederlegen wird. f) Prof. Dr. Arthur Liebert sprach in seinem Korreferat über „Zukunftsaufgaben des Neukantianismus“. […] Mit diesem Vortrag schloß die Vormittagssitzung. Auf der Freitreppe des Aulagebäudes wurde im Auftrage des Verlages von August Scherl eine Aufnahme der zufällig anwesenden Teilnehmer gemacht, die in Heft 23 [vom 12.6.1920] S. 594 der Woche veröffentlicht worden ist [mit Natorp und Vaihinger im Vordergrund: https://archive.org/details/diewoche22.1920teil12janjun/page/n663/mode/2up (24.9.2024)]. […] Im unmittelbaren Anschluß an das Essen begann dann die Nachmittagstagung, die dem gerade gegenwärtig so bedeutungsvollen Problem der philosophischen Propädeutik gewidmet war. Als erster Redner sprach Gymnasialdirektor Geheimrat Dr. Goldbeck (Berlin) über „Die philosophische Propädeutik unter dem Gesichtspunkt der Jugendpsychologie“. Dieser Vortrag wird in einem der nächsten Hefte der Kant-Studien erscheinen […] Nach dem Abendessen [am 30.5.1920] versammelte sich in der Aula ein zahlreicher Hörerkreis, zu dem außer den Mitgliedern der Kant-Gesellschaft auch viele Nichtmitglieder zählten, die das Interesse an den musikalischen Schöpfungen eines Philosophen herbeigerufen hatte. Es waren wohl die ergreifendsten Stunden der ganzen Tagung, die wir hier, Natorps ernsten und feierlichen Kompositionen lauschend, verleben durften. In Frau Dina Mahlendorff (Sopran) sowie den Herren Privatdozent Dr. med. Grote (Klavier), Assistenzarzt Dr. med. Budde (Cello) und Konzertmeister Johannes Versteeg (Geige), sämtlich aus Halle, fanden die Werke Natorps feinsinnige und verständnisvolle Interpreten; außerordentlicher Beifall rief den Komponisten wiederholt auf das Podium. – Vgl. ferner https://www.campus-halensis.de/artikel/paul-natorp-der-philosoph-als-komponist/ bzw. Hörbeispiele der 1920 aufgeführten Stücke unter: https://vkjk.de/artikeldetails/kategorie/kammermusik/artikel/paul-natorp-der-philosoph-als-komponist.html (21.12.2021).4↑meinen Sohn ] vermutlich gemeint: Johannes Adelbert Natorp (gerufen Hans, 1892–1972), Studienort nicht ermittelt, 1925–1931 Amtsrichter in Ziegenhain, danach in Marburg, vgl. Ottfried Keller: Die Gerichtsorganisation des Raumes Marburg im 19. und 20. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte der „Landschaft an der Lahn“. Marburg: Magistrat der Stadt 1982 (Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur Bd. 4), S. 144 u. 213. Der andere Sohn von Paul Natorp, Johann Friedrich Rudolf Natorp (gerufen Fritz, 1888–1948, nach anderen Angaben (ancestry.org) *1885) war Kunsterzieher in Schmalkalden (https://www.lagis-hessen.de/en/subjects/gsrec/current/1/sn/bio?q=natorp (24.9.2024)) und hat in Stuttgart offenbar zunächst Architektur studiert (vgl. Holhzhey: Cohen und Natorp Bd. 2, S. 386. Im Register wird dieser Beleg zwar für Hans Natorp ausgewiesen, da dieser jedoch Jura studierte, handelt es sich offenbar um eine Verwechselung). Beide Söhne veröffentlichten je eine Schrift: Hans Natorp: Der Mangel am Tatbestand (sein Verhältnis zum Versuch, untauglichen Versuch und Putativdelikt) und seine Strafbarkeit. Breslau: Schletter 1921; Friedrich Natorp: Grundlagen künstlerischer Erziehung. Augsburg: Filser 1930.5↑mit einer philosophischen Gabe ] zu Natorps Vortrag vgl. Abich: Kant-Gesellschaft. Bericht über die Allgemeine Mitgliederversammlung. In: Kant-Studien 25 (1920), S. 470–477.6↑Schrift „Sozialidealismus“ ] vgl. Natorp: Sozial-Idealismus. Neue Richtlinien sozialer Erziehung. Berlin: Springer 1920. 2. Aufl. 1922. Die beiden letzten Kapitel tragen die Titel: Inhalt der sozialen Erziehung; Form und Ziel der sozialen Erziehung.7↑Hans Blüher in der „Tat“ ] vgl. Hans Blüher: Die Nachfolge Platons. In: Die Tat 11 (1919/1920), S. 589–602, hier S. 593: […] ich erinnere etwa an den Versuch der Marburger Schule, aus Platon einen Vorläufer Kants zu machen (wobei mir einfällt, daß der alte, ehrwürdige Natorp alle seine früheren Schriften verleugnet haben soll, und jetzt, im hohen Alter, vor neuen Entscheidungen steht) […].8↑Rechenschaft gegeben ] am 27.4.1912, vgl. die Vortragsankündigung in Vaihinger, mit Arthur Liebert: Einladung zur Allgemeinen Mitgliederversammlung (General-Versammlung) am Sonnabend, den 27. April 1912. In: Kant-Studien 17 (1912), S. 190–192: 16:30 Uhr Paul Natorp: Kant und die Marburger Schule.▲