Bibliographic Metadata
- TitleKarl Gjellerup an Vaihinger, Klotzsche, 11.3.1919, 4 S., hs., mit verdeutlichenden Transkriptionen von anderer Hd. über einzelnen Wörtern, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 1 e, Nr. 7
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 1 e, Nr. 7
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Karl Gjellerup an Vaihinger, Klotzsche, 11.3.1919, 4 S., hs., mit verdeutlichenden Transkriptionen von anderer Hd. über einzelnen Wörtern, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 1 e, Nr. 7
Klotzsche 11 März 1919.
Hoch verehrter Herr Geheimrath!
Herzlich danken wir Ihnen für Ihren freundlichen Brief[1]. Ja, wir hatten allerdings durch unsere Tochter, die mit Frau Büttner[2] (Schopenhauerverein) gesprochen hatte, von dem tragischen Ereignis in Ihrer Familie[3] gehört; es hat uns tief erschüttert; Ihre Tochter stand von dem Meissener Tag[4] hier in schöner Erinnerung vor uns. Wenn wir Ihnen dennoch nicht geschrieben haben, so werden Sie dies gewiss auch nicht als Mangel an Teilnahme deuten, sondern darin eine natürliche Zurückhaltung sehen, solange wir nur auf dritte Hand davon wussten, und eine gewisse Scheu, sich mit Theilnahmebezeugungen[a] in einen so tiefen Schmerz gleichsam hineinzudrängen. Da Sie jedoch jetzt selber so überaus freundlich uns diese Mittheilung machen, dürfen wir auch solche Zurückhaltung fallen lassen und Ihnen sagen, wie sehr unsere Herzen in dieser Zeit, die für uns alle so furchtbar, für Sie aber doppelt schrecklich gewesen ist, bei Ihnen waren, wie oft wir bekümmert von Ihnen gesprochen haben.
Es freut mich nun recht aus Ihrem Brief zu sehen, daß mein Heranziehen des Als-Ob-Gedanken in meiner Beantwortung der Rundfrage[5] Ihnen gefallen hat. In meinem neuen Buch, einem Werk der Phantasie und des Humors „Das heiligste | Thier“, elysisches Fabelbuch[6] (spielt im Pantheon[b] der Thiere, wo die berühmten Thiere sind), werden Sie, wenn ich es, hoffentlich im Herbst, Ihnen überreichen kann, werden Sie[c] auf eine recht überraschende Weise das Als-Ob finden.
Einstweilen sende ich Ihnen ein Gedicht – Sylvesterklänge[7] hatte ich es genannt, die Redaktion hat ihm einen anderen Namen gegeben. Ich glaube, es wird auch Ihren Gefühlen Ausdruck geben.
Für das Programm der Annalen[8] danke ich sehr. Freue mich immer darüber, mit meinem Aufsatz mich in so feiner Gesellschaft zu befinden.
Konrad Langes „Wesen der Kunst“[9] habe ich mir gekauft und mit Interesse gelesen. Man sieht, er kommt von der bildenden Kunst, wo alles, was er sagt, stimmt, wenn es auch schwerlich den tiefsten Gesichtspunkt darstellt. In der dramatischen Poesie und theilweise[d] in der epischen lässt sich ein Gedanke ja auch einigermassen durchführen, in der Lyrik hapert’s gewaltig, in der Musik zeigt sich der Versuch als gänzlich unmöglich. Wenn er sich hier auf so rein peripherische Erscheinungen beruft als eine Schubertsche Begleitung, die das Rieselen[e] des Baches vortäuscht, ein Gewitter[f] und Ähnliches und daraus eine grosse Nummer macht, so ist dies so armselig, daß es eigentlich nur zeigt, auf welche Abwege ein geistreicher Mann seiner Theorie zu Liebe geführt werden kann. Diese Theorie, in so fern als sie das Wesen der Kunst | erschöpfen soll strandet unrettbar auf die Musik[g]. Denn hier fehlen die zwei Reihen, es giebt nur eine. Die Musik schafft ihre eigene Wirklichkeit und täuscht durchaus keine andere vor. Der Maler erschafft 1) zuerst als Thier[h] (und zwar als Mensch und zwar als dies Individuum) die allgemeine (und die ihn besonders) umgebende Wirklichkeit.[i] Dann 2) schafft er als Künstler ein Abbild eines Teils dieser Wirklichkeit, das dann 3) mehr oder wenig (oft verflucht wenig!) „täuschend ähnlich“ ist. – Beim Komponisten kommt eben 1 in Wegfall. Bei 2 ist demnach kein Abbild möglich, sondern das Bild ist Schöpfung[j]; folglich kommt auch 3 und damit die Illusionstheorie in Wegfall. Es ist bemerkenswerth, daß dies sich auch in der Architektur nur sehr nothdürftig und äusserst gezwungen durchführen lässt – ein neuer Zug zum Parallelismus zwischen Archit[ektur] u. Musik. Dieser beruht – was ich nie bewußt gesehen habe – darauf, daß die Form der Arch[itektur] der Raum, die der Musik die Zeit ist – beide isoliert; in der Archit[ektur] ist keine Zeit, in der Musik kein Raum.[k] Darum auch ist die Musik Rhythmus und Harmonie –[l] die Mutter aller Künste („Muse“)[m], denn alles ist in der Zeit; die Mutter der Musen ist die Erinnerung[10], das Wiederbeleben und die Zusammenfassung der fliessenden Zeit.
Wenn ich Lesefrüchte[11] finde, werde ich nicht versäumen, solche zu senden.
Nehmen Sie mir[n] die herzlichsten Grüsse von meiner Frau und Ihrem ergebenen
Karl Gjellerup |
Ich weiss nicht, ob folgende Stelle – zum Gebrauch der Bezeichnung Fiktion, von historischem Interesse sein kann:
Jakobs „Göttliche Dinge“ (Sämtl[iche] Werke Leipz[ig] 1816. Band 3, p. 266.)
So wenig der Prophet Natan durch eine Fiktion vom Schaf des armen Mannes den Namen eines guten Fabeldichters verdienen wollte
– also Fiktion als praktisches Hilfsmittel.
(Gegensatz zum blossen Fabulieren).
Kommentar zum Textbefund
i↑Wirklichkeit. ] danach Fußnotenzeichen und -text (von Gjellerups Hd.): wesentlich auf der Grundlage des Gesichts- Tast- und Muskelsinnes.k↑Raum. ] darüber von anderer Hd. mit Bleistift: Es sind eben die beiden Künste der beiden grossen Undinge. [nach Kant, Kritik der reinen Vernunft]Kommentar der Herausgeber
3↑tragischen Ereignis in Ihrer Familie ] der Suizid der Tochter Erna Vaihinger am 31.12.1918; vgl. den Kommentar zu Vaihinger an Fritz Mauthner vom 9.1.1921.7↑Sylvesterklänge ] vgl. den Nachweis des Manuskriptes von Silvester 1918 im Findbuch über den Dresdener Nachlass Gjellerup: http://digital.slub-dresden.de/id333570553 (S. 10; 24.9.2024).9↑Konrad Langes „Wesen der Kunst“ ] von Vaihinger mehrfach empfohlen, vgl. z. B. Vaihinger an Houston Stewart Chamberlain vom 28.1.1916.11↑Lesefrüchte ] vgl. die gleichnamige Rubrik in: Annalen der Philosophie. Mit besonderer Rücksicht auf die Probleme der Als Ob-Betrachtung, 1919 ff.▲