Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Paul Ernst, Halle, 8.3.1919, 2 S., Ts. mit eU, Deutsches Literaturarchiv Marbach, A:Ernst, Paul
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- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationDeutsches Literaturarchiv Marbach, A:Ernst, Paul
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Vaihinger an Paul Ernst, Halle, 8.3.1919, 2 S., Ts. mit eU, Deutsches Literaturarchiv Marbach, A:Ernst, Paul
Diktat.
Halle Reichardtstr. 15, den 8. März 1919.
Hochgeehrter Herr Dr. Paul Ernst!
Durch Ihren Verleger erhalte ich soeben ein Exemplar Ihrer neuen Schrift[1] „Der Zusammenbruch des deutschen Idealismus“. Haben Sie verbindlichsten Dank dafür, dass Sie Ihren Verleger dazu veranlasst haben.
Für Jemand, der kein Wort selbst mehr lesen kann und sich alles vorlesen lassen muss ist es unmöglich, rasch sich in einem grossen Buche zurechtzufinden und sich ein Urteil darüber zu bilden. So habe ich nur vorläufig durch die Inhaltsangabe, durch die Einleitung und durch Herauslesen einzelner kürzerer Stellen mich über die äussere Struktur und den inneren Verlauf zu orientieren gesucht. Das Buch ist offenbar reich an guten Gedanken und treffenden Einfällen.
Es überrascht durch die Fülle der Gesichtspunkte, die zunächst mehr literarhistorischen Eindruck machen, bis man entdeckt, dass hinter dem Literarhistoriker ein Philosoph steckt. Es sind mir auch Stellen vorgelesen worden, aus denen die Philosophie des Als Ob herausleuchtet, doch scheint nach dem Bericht meiner Vorleserin der Titel derselben nicht erwähnt[2] zu sein. Vielleicht findet sich das aber noch und das würde dann Manchen veranlassen können, sich mit der Fiktionenlehre, die Sie öfters erwähnen, eingehender zu befassen. Fehlt das Zitat meines Buches doch, so könnten Sie es ja in der 2. Auflage[3] Ihres Buches nachtragen, die hoffentlich bald herauskommt.
Die Fiktionenlehre erscheint ja wohl als dasjenige, woran man sich nach dem „Zusammenbruch des deutschen Idealismus“ noch halten kann. Was jetzt zusammengestürzt ist, ist der in ausgefahrenen Geleisen sich bewegende Idealismus eines Eucken und anderer Propheten, welche im August 1914 einseitigen Idealismus mit ebenso einseitigem Nationalismus verquickten.
Was von dem alten Idealismus haltbar ist kann nur bestehen, wenn es mit dem Haltbaren des Positivismus vereinbar ist. In diesem Sinne habe ich die neue Zeitschrift „Annalen der Philosophie mit besonderer Rücksicht auf die Als Ob Betrachtung“ begründet, deren Programm ich Ihnen gleichzeitig zuschicke[4]. Dies Programm will dem neuen Deutschland eine neue Philosophie geben. Vielleicht trifft diese neue Richtung in Vielem mit dem zusammen, was Sie wollen. Das werde ich ja noch in Ihrem Buche näher finden, dem ich meine nächste Zeit widmen werde und so werde ich auch wohl in der Lage sein, im nächsten Hefte der neuen Zeitschrift Ihr neues Buch selbst besprechen zu können[5]. |
Soweit ich erfahre haben Sie sowohl in Ihrem Buche, als auch sonst die neue Zeit sympathisch begrüsst. Die alte hatte gewiss grosse Fehler, aber die neue Zeit scheint nicht minder grosse zu haben und ihre grösste Gefahr liegt in ihr selbst: nicht blos in der Übertreibung des sozialistischen Gedankens[6], sondern in dessen Umschlagen in den Terrorismus.
Doch das führt mich weit hinaus über dasjenige, was mir am nächsten liegt: nämlich Ihnen herzlich zu danken für Ihr verständnisvolles Eingehen auf die Fiktionenlehre, worin ich eine wertvolle Bestätigung und Weiterbildung erblicke.
Mit wiederholten Dank Ihr ganz ergebener
Vaihinger
P. S.[a] Ich sende Ihnen mehrere Programme der neuen Zeitschrift, in dem Gedanken, daß Sie vielleicht, falls Sie ihm einigermaßen zustimmen, das Bedürfnis hätten, Gleichgesinnte auf dieses neue Unternehmen aufmerksam zu machen. Freilich ist die neue Zeitschrift in ihrem 1. Bande erst am Anfang dessen angekommen, was sie im Laufe der Zeit leisten will.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
3↑2. Auflage ] erschien noch 1918 als Bd. 13 der Ausgabe Paul Ernst Gesammelte Werke; 3. Aufl. 1931.4↑Ihnen gleichzeitig zuschicke ] folglich zum wiederholten Male (liegt nicht bei); vgl. Vaihinger an Paul Ernst vom 11.5.1918.5↑selbst besprechen zu können ] vgl. an Stelle dessen die Rezension v. Raymund Schmidt über Paul Ernst in: Annalen der Philosophie. Mit besonderer Rücksicht auf die Probleme der Als Ob-Betrachtung 2 (1921), S. 120–127.6↑Übertreibung des sozialistischen Gedankens ] vgl. Vaihinger an Hermann Gocht vom 31.1.1919 bzw. vom 11.1.1919 an Karl von Bülow.▲