Bibliographic Metadata
- TitleKarl Gjellerup an Vaihinger, Klotzsche, 14.10.1916, 6 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 1 e, Nr. 2
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 1 e, Nr. 2
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Karl Gjellerup an Vaihinger, Klotzsche, 14.10.1916, 6 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 1 e, Nr. 2
Klotzsche Garstenstrasse 28. 14.10.16.
Hochverehrter Herr Professor!
Meinen herzlichsten Dank für den ausführlichen Brief[1] und das Nietzsche-Büchlein[2], wodurch Sie mich vor ein paar Tagen sehr angenehm überraschten. Das Buch las ich sofort, mit Interesse. Freilich liegt – wie Sie vermuthen – Nietzsche mir nicht, so wenig in der That, daß ich ihn selber kaum lesen kann. Ausser „Die Geb[urt] d[er] Tr[agödie]“ und der „Unzeitgem[äßen] Betr[achtungen]“, die ich besitze und schätze, habe ich von ihm nur „Menschl[iches] allzu M[enschliches]“, „Genealogie der Moral“ u. „Jenseits etc.[3]“ gelesen. Dass sein Zarathustra Standpunkt der eines umgekehrten Schopenhauerianismus ist, war mir von[a] je klar; auch daß der Übermensch als Zukunftgattung vielleicht Darwin konstruiert war[b]. Interessant war mir, daß sein Jugendfreund aus Basel[c], der hier wohnende Dr. Heinrich Romundt[4], ein treuer Kantianer, mir des öfteren erzählt hat,[d] | daß N[ietzsche] in jener Zeit immer darauf zurückkam: „mit Darwin müsse etwas zu machen sein“[e] – er wollte eben absolut etwas machen. Sie haben ihn sehr fein und sauber dissekiert[5] – sympathischer ist er mir dadurch nicht geworden – aber das war ja auch nicht die Aufgabe.
Ihre Äusserungen über meine Preussische Jahrbücher-Aufsätze[6] haben mich gar sehr gefreut und aufgemuntert. Ich dachte mir schon, daß Sie im Buddhistischen verschiedenes Einschlägiges finden würden – zumal in der Anatta-Lehre. Über diese habe ich gerade jetzt in den Grenzboten[7] (bei der Besprechung eines neuen Werkes) ausführlicher geschrieben, was ich Ihnen, sobald es vorliegt, zusenden werde. Ich lenke Ihre Aufmerksamkeit auf die Stelle 150 (Die Reden B[uddhas]) dritter §, die für Buddhas Stellung zum naiven logischen Optimismus so charakteristisch ist. Daß es Wahrheiten giebt die unheilsam sind, ist das Gegenstück dazu, daß es Fiktionen giebt, die heilsam sind. Und dann auch auf das was ich Bud[dha] 142 1 Heft p. 33 sage vom Vedantisten u. Buddha[f] (was ja mit | der Anatta-Lehre zusammenhängt). Darüber schrieb mir ein buddhistischer Mönch, Silacâra in Bangore: ‚There you have it in a nutshell.‘ Der hier gebrauchte Ausdruck „zum Entrinnen tauglich“ bezieht sich gerade auf die Stelle in den Sutras[g], die für den Als-Ob-Philosophen das grösste Interesse hat (in d[er] 22. Rede der mittleren Sammlung). Hier zeigt nämlich der Buddha seinen Jüngern die Lehre als Floss „zum Entrinnen tauglich, nicht zum Festhalten.“ Wenn ein Mann, sagt er, mittels eines Flosses einen reissenden Strom durchkreuzt hat und das sichere jenseitige Ufer erreicht, so würde er töricht[h] handeln, wenn er[i] aus Liebe zu diesem Floss es auf den Rücken nähme und damit belastet weiter gienge; vielmehr wird er das Floss, das nun seinen Dienst geleistet, liegen lassen und frei sich hinbegeben wo es ihm beliebt. Dies ist in der That[j] die Religion in Als-Ob-Beleuchtung – von praktischer nicht theoretischer Wahrheit („nicht zum Festhalten“).[k]
Ich bin jetzt damit beschäftigt, einen grösseren Artikel für „den Zeitgeist“ (Berliner Tageblatt, das ich übrigens nicht mag) zu schreiben über jenen 11 ten Band der neuen Schopenhauer-Ausgabe[8], welchen Prof. Deussen Ihnen hier für die Kant-Gesellschaft überreichte[9]. Ich mache Sie | auf § 62 aufmerksam, wo Sch[openhauer] die Kantische Moraltheologie ganz unter Ihrem Gesichtspunkt betrachtet. Wäre Ihnen diese Stelle bekannt gewesen, so hätten Sie sie sicher angeführt.[l]
Von Ihrem grossen Werke[10] habe ich jetzt 570 Seiten gelesen – mit grosser Ausbeute. Ganz vorzüglich hat mich der Abschnitt über die erkenntnistheoretischen Konsequenzen und das Kapitel über den absoluten leeren Raum interessiert. Wenn ich Alles gelesen habe, werde ich Sie mit einigen Fragen plagen. Schmerzlich ist es mir, daß mein Verständnis aufhört, wo die mathematischen Formeln beginnen!
Kapitelüberschriften habe ich in „Die Weltwanderer“, „Der Pilger Kamanita“, „Die Hirten und der Hinkende“ verwandt, und, wie ich glaube, auch poetisch zu verwerthen gewusst. Hier (in „Reif f[ür] d[as] L[eben]“) würden Sie für mein Empfinden aus dem Stil herausfallen. Die Eintheilung in Büchern, die ich überhaupt des öfteren verwende, könnte freilich in dieser Beziehung auch[m] bedenklich erscheinen, ergab sich aber durch die zeitlichen und zugleich logischen[n][o] Abschnitte von selber.
Es freut mich, daß Sie selber meinen Artikel[11] in Leipz[iger] Ill[ustrierte] Z[eitung] entdeckten, denn davon habe ich keine Abdrucke. Es ist gewissermassen ein politischer | Als-Ob-Artikel.[p] Es ist mir nämlich längst klar geworden, daß man[q] wenn man in solchen Fragen wirken – oder versuchen zu wirken will – durchaus so[r] schreiben muss, als ob der Zustand, den man herbeizuführen wünscht, wirklich, wenigstens theilweise oder dem Ansatze nach, schon jetzt[s] vorhanden wäre, selbst wenn ich sehr wohl weiss, daß dies eigentlich nicht der Fall ist. Indem ich so schreibe statuiere ich ja wirklich auch einen solchen Ansatz. Gesetzt z. B. ich möchte einem genialen, noch fast unbekannten Schriftsteller zum Ruhm verhelfen, so muss ich etwa schreiben: „Erfreulicher Weise ist es jetzt schon Vielen aufgegangen“ – (obwohl ich nur zu gut weiss, daß es leider[t] nur äusserst Wenigen aufgegangen ist) – „daß dieser ausgezeichnete Schriftsteller“[u] etc. –[v]
Da haben Sie nun ein neues, theoretisch | falsches, praktisch aber sehr lobenswerthes Als-Ob.[w]
Nun hoffe ich, daß mein Roman Sie auch in seinem weiteren Verlauf fesseln werde.
Beim Artikel (Ill[ustrierte] Zeit[ung]) hatte die Redaktion den Schluss abgekniffen (um eines lumpigen Bildes wegen[12], wie es scheint), wodurch er ganz abrupt und unkünstlerisch endet. Hat mich sehr geärgert.
Mit herzlichem Gruss, auch von meiner Frau, Ihr ganz ergebener
Karl Gjellerup
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
5↑dissekiert ] Fremdwort im Deutschen ungebräuchlich, hier nach dem im Dänischen nachzuweisenden Fremdwort dissekere: sezieren, zerlegen (lat. dissecere).7↑in den Grenzboten ] vgl. die Rezension von Gjellerup: Hermann Oldenberg: „Die Lehre der Upanishaden und die Anfänge des Buddhismus“. Verlag Vandenhoek u. Ruprecht, Göttingen. Geh. 9., geb. 10 M. In: Die Grenzboten 75 (1916), Erstes Vierteljahr, S. 60–61.12↑eines lumpigen Bildes wegen ] die Schlusssätze von Gjellerup: Altskandinavismus und Neuskandinavismus. Ein Nachwort zur Nordischen Ministerkonferenz. In: Illustrierte Zeitung (Leipzig), Nr. 3823 vom 5.10.1916, S. 466–468 (https://obc.opole.pl/dlibra/publication/8883/edition/7869/content (19.9.2024)) lauten: Als Glied eines großen Organismus – äußerlich von der persischen Bucht bis ans Meer der Mitternachtssonne reichend – muß der Norden gesunden. Ein mächtiger Pulsschlag wird frisches Blut durch die erstarrten Adern treiben. Wer bei solcher Aussicht über Einbuße an Selbständigkeit, wohl gar über „Verlust der Souveränität“ seufzt, gehört in die unterste Klasse der politischen Kinderschule. Darunter Reproduktion einer Zeichnung: Slowenische Bäuerin aus Salcano bei Görz mit ihren Kindern.▲