Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Oskar Walzel, Halle, 3.7.1916, 2 S., Ts. mit eU, Briefkopf (Stempel) Univ.-Prof. Dr. Vaihinger | Halle a. S. | Reichardtstrasse 15., Deutsches Literaturarchiv Marbach, A:Walzel 92.3
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- Physical LocationDeutsches Literaturarchiv Marbach, A:Walzel 92.3
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Vaihinger an Oskar Walzel, Halle, 3.7.1916, 2 S., Ts. mit eU, Briefkopf (Stempel) Univ.-Prof. Dr. Vaihinger | Halle a. S. | Reichardtstrasse 15., Deutsches Literaturarchiv Marbach, A:Walzel 92.3
Diktat
Halle a. S. Reichardtstr. 15.
3. Juli 1916
Herrn Geheimen Hofrath Prof. Dr. Oskar Walzel, Dresden
Infolge eines schweren Augenleidens konnte ich mir erst heute Ihre mir freundlichst dedicierte Abhandlung über Plotin[1] vorlesen lassen und so kann ich Ihnen auch erst jetzt meinen herzlichsten Dank aussprechen für den wissenschaftlichen Genuss, den Sie mir durch Ihren Aufsatz bereitet haben. Ihre ebenso scharfsinnigen als feinsinnigen Ausführungen, welche zugleich durch die vielseitigste Literaturkenntnis belehren, werfen helle Lichter über die Dunkelheiten und Schwierigkeiten der Plotinschen Philosophie. Sie haben die Schwierigkeiten der Deutung der kurzen Sätze Plotins über die Kunst aufs deutlichste herausgearbeitet und haben dadurch gleichzeitig schwierige Stellen bei Goethe und auch schon bei Lessing, Herder und dann wieder bei den Romantikern aufgehellt. Sie haben dabei sogar den neuesten italienischen Ästhetiker Croce hinzugezogen und so ist Ihre Abhandlung nicht blos ein Beitrag zur Geschichte der Ästhetik, sondern schliesslich auch – und das ist ja das Wertvollste für uns alle, auf das Sie selbst zu gleich am Anfang den grössten Wert legen – ein Beitrag zur Ästhetik selbst und zu deren verwickeltem Probleme.
Ich möchte meinerseits glauben, dass die Probleme der Ästhetik durch die schon bei Plotin sich findende falsche Methode unnötig erschwert werden, dass zunächst immer nur von den philosophischen Ästhetikern von der Kunst im allgemeinen gesprochen wird: aber die Probleme der Ästhetik sind ganz andere in den redenden Künsten als in den bildenden Künsten und innerhalb der bildenden Künste wiederum ganz andere in der Plastik als in der Malerei und der von ihr abzutrennenden Graphik. In diesen verschiedenen Künsten hat der Ausdruck „Form“ daher auch verschiedenen Wert und ich glaube, dass die ästhetischen Untersuchungen gewinnen würden, wenn man die ästhetische Form in den einzelnen Künsten und Kunstarten erst speziell untersuchen würde, um erst dann aus der Vereinigung dieser Untersuchungen das allgemeine Problem der ästhetischen Form überhaupt zur Lösung zu bringen.
Auch der sonst von mir hochgeschätzten Ästhetik von Konrad Lange[2] ist der Vorwurf nicht zu ersparen, dass sie zu rasch verallgemeinert. Im übrigen möchte ich glauben, dass in der von ihm sog[enannten] „bewussten Selbsttäuschung“ zwar nicht das Grundprinzip, wie er meint, aber eines der Grundprinzipien des künstlerischen Schaffens und Schauens zu finden ist.
Die Auffassung Konrad Langes berührt sich mit den Grundgedanken meiner „Philosophie des Als Ob“, welche freilich auf die Probleme der Ästhetik nicht näher eingeht, wohl aber auf dieselben angewendet | werden kann.
Gestatten Sie, dass ich eine auf die Philosophie des Als Ob bezügliche kleine Streitschrift[3] Ihnen als literarische Gegengabe überreiche. Zwar kennen Sie diese Abhandlung vielleicht schon aus dem letzten Heft der Kantstudien, aber der Separatdruck, welcher zudem um einen kleinen Nachtrag erweitert ist, bietet vielleicht eine bequemere Lektüre dar als das Heft der Zeitschrift.
Das Prinzip der bewussten Illusion in der Ästhetik, welches in der Erkenntnistheorie als bewusste und zweckmäßige Fiction so vielfach auftritt, ist gerade auch von Goethe energisch vertreten worden. Vielleicht darf ich Sie in diesem Zusammenhang auf einen Aufsatz von Heyfelder[4] im vorigen Bande der Kantstudien verweisen, S. 384 bis S. 401[a], welcher im Anschluss an die Philosophie des Als Ob die Lehre Goethes von den notwendigen aber zweckmässigen „Täuschungen“ kurz darstellt und dann deren Wirkung auf den bis jetzt unbekannten Romantiker Everhard van Groote verfolgt, welcher das Prinzip der bewussten Selbsttäuschung auf die Religion angewendet hat. Diese Anwendung spielt ja auch jetzt bei den Erörterungen über die Philosophie des Als Ob eine Hauptrolle.
Die Als Ob-Betrachtung spielt bei Kant eine ausserordentlich grosse Rolle, wie ich dies in der Philosophie des Als Ob auf über 100 Seiten monographisch nachgewiesen habe. Von Kant aus ist diese Betrachtungsweise über Fichte zu den Romantikern gelangt, aber noch niemand hat diese Spuren verfolgt. Heyfelder hat nur einen schwachen Anfang gemacht und ist leider durch seine schlechten Gesundheitsverhältnisse in seinem Weiterstudium sehr behindert, das sich übrigens von jetzt an ausschliesslich den systematischen Fragen zuwendet. Vielleicht würden Sie, hochverehrter Herr Kollege, diese Spuren weiter verfolgen; kennt doch niemand in Deutschland die Romantik so gut wie Sie. Bis zu Bettina von Arnim hinein lassen sich, wie ich vermuten möchte, diese Spuren verfolgen, die ich selbst, behindert und gebunden durch mein Augenleiden, nicht verfolgen kann. Es dürfte dies aber umso wichtiger und wertvoller sein, als die „Philosophie des Als Ob“ immer mehr in den Vordergrund des philosophischen Interesses tritt und voraussichtlich nach dem Kriege, besonders wenn die dritte Auflage[5] erscheint, noch grössere Wellenkreise ziehen wird.
Mit dem Ausdruck meiner besonderen Genugtuung darüber, dass es mir vergönnt war, in Dresden[6] Ihre mir sehr wertvolle persönliche Bekanntschaft zu machen, sowie mit vorzüglicher Hochachtung Ihr ganz ergebener
Vaihinger
P. S. Anbei die höchst interessante Notiz[7] über das Verhältnis Schopenhauers zu Tieck. Ich verdanke sie meinem Kollegen, dem berühmten Juristen Geheimrat Fitting[8]. – Es wäre sehr wertvoll, wenn Sie Ihren Vortrag[9] nicht blos in einem Dresdener Blatt drucken liessen, sondern in einem weit verbreiteten Organ, z. B. in der Deutschen Rundschau. Ihr Vortrag ist wissenschaftlich höchst wertvoll. Vielleicht finden Sie noch einiges Material in dem 11. Bande der Schopenhauerausgabe, von welcher Deussen am 1. Festtage ein Exemplar der Stadt, resp. der Bibliothek und eines der Technischen Hochschule überwiesen hat. Diese Tagebücher Schop[enhauer]’s ca. 400 Seiten, aus Dresden, sind überaus wichtig.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Abhandlung über Plotin ] vgl. Walzel: Plotins Begriff der ästhetischen Form. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 19 (1916), S. 186–225.2↑Ästhetik von Konrad Lange ] vgl. Konrad Lange: Das Wesen der Kunst. Grundzüge einer illusionistischen Kunstlehre (2. Aufl. 1907) sowie Lange: Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker. In: Annalen der Philosophie. Mit besonderer Rücksicht auf die Probleme der Als-Ob-Betrachtung 1 (1919), S. 424–472.3↑kleine Streitschrift ] vgl. Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob und das Kantische System gegenüber einem Erneuerer des Atheismusstreites. In: Kant-Studien 21 ([1916]/1917), S. 1–25; dass. in: Vaihinger (Hg.), mit Bruno Bauch: Kant-Studien Bd. XXI. Heft 1. Fest-Heft zu Rudolf Euckens 70. Geburtstag. Redaktionsschluss am 15. Dezember 1915. Ausgegeben am 5. Januar 1916. Berlin: Reuther & Reichard 1916, S. 1–25; Sonderdruck u. d. T.: Der Atheismusstreit gegen die Philosophie des Als Ob und das Kantische System. Berlin: Reuther & Reichard 1916.4↑Aufsatz von Heyfelder ] vgl. Erich Heyfelder: Goethe und Everhard von Groote als Philosoph. In: Kant-Studien 20 (1915), S. 384–402 sowie Vaihinger an Houston Stewart Chamberlain vom 5.5.1916.6↑in Dresden ] Die Schopenhauer-Gesellschaft hatte ihre 5. Jahresversammlung vom 13.6.–17.6.1916 in Dresden abgehalten, vgl. Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 1917.8↑Juristen Geheimrat Fitting ] d. i. Hermann Fitting (1831–1918), seit 1872 o. Prof. in Halle (https://www.catalogus-professorum-halensis.de/fittinghermann.html (18.9.2024)).9↑Ihren Vortrag ] vgl. Walzel: Schopenhauer und Dresden. In: Dresdner Anzeiger, Sonntags-Beilage Nr. 34–36 von 1916, S. 141–148.▲