Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Houston Stewart Chamberlain, Halle, 5.5.1916, 2 S., Ts. mit eU, Briefkopf (Stempel) Univ-Prof. Dr. Vaihinger | Halle a. S. | Reichardtstrasse 15., Richard Wagner Museum (Bayreuth), Chamberlain-Nachlass, Rot 196/466
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- Physical LocationRichard Wagner Museum (Bayreuth), Chamberlain-Nachlass, Rot 196/466
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Vaihinger an Houston Stewart Chamberlain, Halle, 5.5.1916, 2 S., Ts. mit eU, Briefkopf (Stempel) Univ-Prof. Dr. Vaihinger | Halle a. S. | Reichardtstrasse 15., Richard Wagner Museum (Bayreuth), Chamberlain-Nachlass, Rot 196/466
Diktat.
Halle a. S. Reichardtstr. 15.
5. Mai 1916.
Herrn H. St. Chamberlain, Bayreuth, Villa Wahnfried.
Hochgeehrter Herr!
Ihre freundliche Antwort[1] auf meine Zusendung vom 28. Januar[2] ermutigt mich, Ihnen heute einen kleinen Nachtrag zu meiner Philosophie des Als Ob in Form einer Streitschrift[3] zu übersenden, welche mir durch einen höchst unnötigen Angriff abgenötigt worden ist. Die Streitschrift behandelt das uralte und doch ewig junge Thema des Gegensatzes der freien und der gebundenen Auffassung der Religion. Die Kantische Als Ob-Betrachtung der Religion, welche auch Sie selbst in Ihrem Kantbuch[4] vertreten, ist natürlich den Orthodoxen sehr zuwider, aber gegenüber solcher dogmatischer Gebundenheit muss immer wieder die echt Kantische Lehre zum Ausdruck gebracht werden.
Dass diese echt Kantische Lehre auch gleichzeitig die echt Goethesche ist, ist den Kennern beider Männer bekannt. Von einer neuen Seite her zeigt dies aber die Abhandlung von Erich Heyfelder[5] (Privatdozent der Ästhetik an der Universität Tübingen, z. Z. Zürich, Hotel Simplon.) Auch zeigt der Genannte, dass diese Als Ob-Auffassung der Religion als einer bewussten Täuschung auch schon von einem wenig bekannten Vertreter der katholischen Romantik zu Goethe’s Zeit, von Everhard von Groote vertreten worden ist.
Im Auftrag des Verfassers, des Herrn Erich Heyfelder, beehre ich mich, Ihnen diese vor einem halben Jahre erschienene Abhandlung zu überreichen.
Gleichzeitig nehme ich mir die Freiheit, von mir aus eine andere frühere Schrift desselben Verfassers[6] zu übersenden, in welcher er zeigt, dass schon Goethe die Illusionsästhetik vertreten hat, wie sie in Konrad Langes „Wesen der Kunst“[7] dargestellt worden ist: danach beruht alle Kunst auf bewusster Selbsttäuschung, auf bewusster Illusion.
Die Ausführungen von Erich Heyfelder hierüber sind zwar etwas zu breit gehalten und verlieren sich teilweise in Nebenpunkte, aber er hat doch einige wesentliche Stellen von Goethe hierüber richtig erläutert.
So mögen diese beiden Abhandlungen von Heyfelder für eine neue Auflage Ihres Goethebuches[8] vielleicht von Wert sein, wie ich wünsche, dass meine Ausführungen über das Als Ob für Ihr Kantbuch von einigem Gewicht sein könnten. |
Sie haben freilich jetzt, wo Sie Ihre grosse politisch-literarische[a] Tätigkeit noch immer so rege fortsetzen, keine Zeit, sich diesen Studien zu widmen, aber schliesslich muss der Krieg doch einmal ein Ende haben. Dann wird es Ihnen wieder möglich sein, Ihre alte wissenschaftliche Tätigkeit wieder aufzunehmen.
Mit vorzüglicher Hochachtung Ihr ganz ergebener
Vaihinger
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
3↑Streitschrift ] vgl. Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob und das Kantische System gegenüber einem Erneuerer des Atheismusstreites. In: Kant-Studien 21 ([1916]/1917), S. 1–25. Sonderdruck u. d. T.: Der Atheismusstreit gegen die Philosophie des Als Ob und das Kantische System. Berlin: Reuther & Reichard 1916.4↑Ihrem Kantbuch ] vgl. Chamberlain: Immanuel Kant. Die Persönlichkeit als Einführung in das Werk. München: Bruckmann 1905; 2. Aufl. 1909, 3. Aufl. 1916.5↑Abhandlung von Erich Heyfelder ] vgl. Heyfelder: Goethe und Everhard von Groote als Philosoph. In: Kant-Studien 20 (1915), S. 384–402.▲