Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Cäsar Flaischlen, Halle, 3.1.1916, 2 S., Ts. mit eU, Briefkopf (Stempel) Univ.-Prof. Dr. Vaihinger | Halle a. S. | Reichardtstrasse 15., Deutsches Literaturarchiv Marbach, A. Flaischlen, Cäsar
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- Physical LocationDeutsches Literaturarchiv Marbach, A. Flaischlen, Cäsar
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Vaihinger an Cäsar Flaischlen, Halle, 3.1.1916, 2 S., Ts. mit eU, Briefkopf (Stempel) Univ.-Prof. Dr.[a] Vaihinger | Halle a. S.[b] | Reichardtstrasse 15., Deutsches Literaturarchiv Marbach, A. Flaischlen, Cäsar
3.1.1916[c]
Hochgeehrter Herr Doktor!
Im Laufe dieses Sommers erhielt ich einen freundlichen Gruss durch Vermittlung meines Freundes Dr. Liebert, meines Stellvertreters in der Geschäftsführung der Kantgesellschaft. Ihr liebenswürdiger Gruss hat mich sehr erfreut, denn immer gedenke ich noch gelegentlich, sooft ich an das Stift und an die Tübinger Theologen denke, auch Ihres Martin Lehnhardt[d][1], welcher vor ca. 20 Jahren hier in den „Kaisersälen“ durch die Truppe des Dr. Heine[2] hier aufgeführt worden ist (welchem es, nebenbei bemerkt, jetzt sehr schlecht geht, und der, soviel ich weiss, in Berlin lebt). Sie haben unterdessen durch Ihre Werke[3] sich einen sehr guten Namen gemacht und Ihre Wirksamkeit greift immer mehr um sich. Vor einiger Zeit verschenkte ich Ihr Buch „Von Alltag und Sonne“ an ein junges Mädchen, das sich nichts sehnlicher wünschte zu ihrem Geburtstag, als gerade dieses Buch. Meine Tätigkeit ging zum grossen Teile auf in der Begründung der „Kantstudien“ und der „Kantgesellschaft“: von der Tätigkeit der letzteren, speziell von den durch sie in Berlin veranstalteten Vorträgen haben Sie ja wohl gelegentlich in den Berliner Zeitungen gelesen. Ich habe noch keinem dieser Vorträge beigewohnt, aber am nächsten Donnerstag, dem 6. Januar, werde ich den Vortrag des Professor Joël aus Basel über „Vernunft und Geschichte“[4] besuchen, da ich gerade ohnedies in Sachen der Kantgesellschaft in Berlin[5] zu tun habe. Das allgemein interessante Thema erweckt vielleicht auch Ihr Interesse und so erlaube ich mir, Ihnen eine Karte dazu zu übersenden. Es würde mich sehr freuen, Sie an diesem Abend persönlich begrüssen zu dürfen. Freilich werde ich Sie | schwerlich mehr erkennen, aber nicht etwa deshalb, weil Sie älter geworden sind, sondern deshalb weil meine Augen so schwach geworden sind, dass ich fast nichts mehr sehe.
Von meiner übrigen Tätigkeit ist Ihnen vielleicht einmal gelegentlich der Titel meiner „Philosophie des Als Ob“ in Zeitungen oder Zeitschriften vorgekommen. Auf dieses Werk bezieht sich auch eine Abhandlung[6], die ich Ihnen zu senden mir erlaube: sie ist nicht in dem üblichen philosophischen Jargon geschrieben und ist, wie mir von Lesern derselben gesagt wird, sogar sehr unterhaltend.
Der Grundgedanke meiner „Philosophie des Als Ob“ ist gerade für einen Dichter vielleicht besonders anziehend: denn es handelt sich dabei um den Wert bewusster Dichtung[e] in der Wissenschaft und im Leben, um „bewusste Selbsttäuschung“ worin ja auch das Wesen der Kunst besteht, wie der Tübinger Professor Conrad Lange[7] nachgewiesen hat. So mag vielleicht der Prospekt meines Verlegers über das genannte Werk Sie vielleicht interessieren, da eben dieser Prospekt einen belehrenden Einblick in die philosophischen Probleme und Strömungen der Gegenwart gibt.
In der Hoffnung, Sie am Donnerstag wieder zu sehen, mit landsmannschaftlichem Gruss[8] Ihr ergebener
Vaihinger[f]
Kommentar zum Textbefund
e↑bewusster Dichtung ] mit Bleistift unterstrichen, am linken Rd. von Flaischlens Hd.: vgl. dazu Jost V. 89/90f↑Vaihinger ] links gegenüber von Flaischlens Hd. mit Bleistift: die Broschüre unter Manuskript gelegt. / ist in der Tat zu verwenden.Kommentar der Herausgeber
2↑Truppe des Dr. Heine ] meint wahrscheinlich: Carl Heine (1861–1927), Regisseur, Dramaturg und Oberspielleiter (NDB), führte in der Spielzeit 1895/1896 in Leipzig Regie für mehrere Stücke, darunter Flaischlens Drama Martin Lehnhardt (vgl. Merian, Hans: Die Saison 1895/96 der „Litterarischen Gesellschaft“ in Leipzig. In: Die Gesellschaft. Halbmonatschrift für Litteratur, Kunst und Sozialpolitik 14 (1898), S. 804–810). Aufführung in Halle nicht ermittelt.4↑Joël aus Basel über „Vernunft und Geschichte“ ] vgl. die Mitteilung in Kant-Studien 21 (1916/1917), S. 358: Die Einrichtung von Vortragsabenden in Berlin wird auch im Jahre 1916 aufrecht erhalten. Wieder werden voraussichtlich acht Vorträge stattfinden, in die sich wissenschaftlich anerkannte Vertreter der verschiedenen Richtungen der zeitgenössischen Philosophie teilen werden. (Im Januar sprach bereits Prof. Dr. Karl Joël von der Universität Basel über: „Vernunft und Geschichte“); am 6.1.1916 (vgl. dass. S. 474). – Vgl. Karl Joël: Die Vernunft in der Geschichte. München: Bruckmann 1916 (Weltkultur und Weltpolitik. Deutsche und österreichische Schriftenfolge. Hg. v. Ernst Jäckh in Berlin und vom Institut für Kulturforschung in Wien. Deutsche Folge 9; https://portal.dnb.de/bookviewer/view/1035343134#page/n3/mode/2up (18.9.2024)).7↑Wesen der Kunst … Conrad Lange ] vgl. Konrad Lange: Das Wesen der Kunst. Grundzüge einer illusionistischen Kunstlehre. Berlin: Grote 1901; 2. Aufl. 1907.▲