Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Hans Delbrück, Halle, 31.3.1914, 4 S., hs. (andere Hd., mit eU und eigenhändigem Postskriptum), Briefkopf GEH. REG.-RAT | PROF. DR. H. VAIHINGER. | Halle a. S., d. … 19 | Reichardtstr. 15., Bundesarchiv Koblenz, Teilnachlass Delbrück 2, N 1017/17
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- Physical LocationBundesarchiv Koblenz, Teilnachlass Delbrück 2, N 1017/17
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Vaihinger an Hans Delbrück, Halle, 31.3.1914, 4 S., hs. (andere Hd., mit eU und eigenhändigem Postskriptum), Briefkopf GEH. REG.-RAT | PROF. DR. H. VAIHINGER. | Halle a. S., d. … 19 | Reichardtstr. 15., Bundesarchiv Koblenz, Teilnachlass Delbrück 2, N 1017/17
Verehrtester Herr Kollege!
Inliegendes Schriftstück[1] wird Ihnen sicher schon zu Gesicht gekommen sein. Für alle Fälle sende ich es Ihnen aber mit. Rücksendung ist nicht erforderlich.
Es ist an der Zeit, daß dem verderblichen Treiben des Sprachvereins gegenüber wieder ein energischer Schritt getan wird. Es ist zweckmäßig, eine neue Erklärung[2] gegenüber den immer mehr um sich greifenden Bestrebungen dieses irreführenden und irregeführten Vereins zu erlassen. Auch wäre es zweckmäßig, in diesem Falle nicht blos Berliner Gelehrte und Schriftsteller, sondern solche aus dem ganzen deutschen Sprachbereich (incl[usive] Oesterreich u. Schweiz) hinzuzuziehen.
Die neue Erklärung müsste natürlich die angreifbaren Wendungen weglassen, welche zwar sachlich durchaus richtig, formell aber eben angreifbar sind: ihren[a] Statuten nach und ihren offiziellen Erklärungen nach will der Sprachverein allerdings keine Reichssprachämter. Aber sachlich kommt es allerdings darauf hinaus: es soll durch | behördlichen Druck der Gebrauch der Fremdwörter unterbunden werden, und das kommt in concreto allerdings direkt auf ein Verbot der Fremdwörter hinaus. Es würde dies also in der neuen Erklärung vielleicht besser in dieser oder ähnlicher Form ausgedrückt werden.
Die neue Erklärung müßte auch noch einen Umstand berücksichtigen, welcher in der alten Erklärung von 1889 fehlt. Die Fremdwörter sind ein internationales Sprachgut, welches die verschiedenen Völker mit einander verbindet und deren geistigen und materiellen Verkehr unter einander erleichtert ja teilweise überhaupt erst ermöglicht.
Durch Weglassung der Fremdwörter würde nicht blos unsere deutsche Sprache in sich verarmen, sondern wir würden auch den anderen Völkern gegenüber direkt geschädigt werden: Nicht blos das wissenschaftliche Leben der Kulturvölker ist ohne gemeinschaftliche Fremdwörter unmöglich, sondern auch das gesellschaftliche und vor allem auch das kommerzielle.[b]
Aus diesem Grunde müßten nicht blos Gelehrte und Schriftsteller zur Unterschrift hinzugezogen werden, sondern auch Industrielle und Führer des Handels und der Börse, weiterhin aber auch Männer in hoher gesellschaftlicher Stellung besonders auch Diplomaten.[c]
Von Anfang an habe ich die Bestrebungen des Sprachvereins verfolgt und habe gefunden, daß die Vertreter des Vereins immer anspruchsvoller vorgehen und immer ver|hängnisvoller wirken, und eine Verwirrung in den schwachen Köpfen hervorrufen, die ja nun einmal die Majorität bilden. Es muß in der neuen Erklärung mit schärfsten Worten ausgedrückt werden, daß die Bestrebungen des Vereins direkt eine nationale Gefahr bilden und zu einer Verarmung und Verödung nicht blos der Sprache, sondern auch des geistigen Lebens führen.[d]
Ein besonders sophistischer Tric der Vereinsführer ist folgender: sie behaupten in ihren Satzungen, sie wollen nur die „entbehrlichen“ Fremdwörter ausmerzen[e]. Das ist ja aber doch die Frage, was „entbehrlich“ sei. Darüber gehen ja doch eben die Meinungen sehr weit auseinander. Nach der Meinung, die Sie und Ihre Freunde vertreten und die ich selbst ebenfalls teile, sind eine Menge von Fremdwörtern unentbehrlich, von denen aber der Sprachverein behauptet, sie könnten entbehrt werden.
Sie würden sich ein nationales Verdienst erwerben, wenn Sie eine neue Sammlung von Unterschriften in dem oben ausgesprochenen Sinn veranstalten würden. Es ist höchste Zeit, daß das geschieht: denn sonst wird die Sage immer weiter verbreitet, jene Erklärung vom Jahre 1889 sei nur „historisch“ und heute lägen die Sachen ganz anders.
Ich bin überzeugt, daß Hunderte und Aberhunderte von Unterschriften der führenden Männer des deutschen Volkes zu bekommen sind. Es fehlt nur im Augenblick an der Organisation, | und diese könnten Sie allein, verehrtester Herr Kollege, in die Hand nehmen. Sie haben ja auch die nötigen Hilfskräfte dazu.
Wenn man derartigen Bestrebungen, wie denen des Sprachvereins, nicht energisch entgegentritt, so greifen sie immer mehr um sich. Die Leute sind ungemein energisch. Sie machen Petitionen an Reichstage und Landtage und insbesondere an die Behörden. Liegen nun nicht entgegengesetzte Äußerungen vor, so wirken derartige Petitionen verhängnisvoll.
Es wären aus anderen Gebieten Beispiele genug anzuführen, wo in den letzten Jahren Vereine, deren Bestrebungen mehr oder minder zweifelhaft oder verwerflich sind, durch fortgesetzte Petitionen ungeahnte Erfolge errungen haben.
Man darf also die Hände nicht in den Schoß legen, sondern man muß dem energischen Vorstoß der Gegner einen ebenso energischen Gegenstoß entgegensetzen.
Ich selbst kann in der Angelegenheit weiter nichts tun: ich bin durch ein schweres Augenleiden in Allem sehr behindert. Aber ich hielt es für meine Pflicht, Ihnen meine offene Zustimmung zu Ihren Bestrebungen auszudrücken, sowie den Wunsch auszusprechen, Sie möchten mit aller Kraft auf diesem Wege fortfahren.
Mit kollegialem Gruß[f] Ihr ganz ergebenster
Vaihinger[g]
P. S.
Sie können von diesem Schreiben beliebigen Gebrauch machen, also es auch beliebig, wo Sie wollen, zum Abdruck bringen.
V.
Kommentar zum Textbefund
b↑Die … kommerzielle. ] Absätze mit Bleistiftklammern markiert, vgl. das Zitat nach Vaihingers Schreiben in Hans Delbrück: Die Sprachreinigung, Fürst Bismarck und Heinrich v. Treitschke. In: Preußische Jahrbücher 156, April–Juni 1914, S. 308–334, hier S. 327.d↑Von … führen. ] Absatz mit Bleistiftklammern markiert, vgl. das Zitat in Delbrück: Die Sprachreinigung, Fürst Bismarck und Heinrich v. Treitschke. In: Preußische Jahrbücher 156, April–Juni 1914, S. 308–334, hier S. 327–328.f↑Mit kollegialem Gruß ] rechts daneben Notiz von anderer Hd.: beantw. | d. 11.4.14 [entsprechendes Schreiben Delbrücks nicht überliefert]Kommentar der Herausgeber
2↑eine neue Erklärung ] der Allgemeine Deutsche Sprachverein agitierte seit 1885 sprachpuristisch für die Ersetzung von Fremdwörtern in der deutschen Sprache (vgl. Sussan Milantchi Ameri: Die deutschnationale Sprachbewegung im Wilhelminischen Reich. New York u. a.: Peter Lang 1991). Dagegen erschien: Erklärung [gegen die Schutz- und Trutzvereine zur Reinigung unserer Muttersprache bzw. den Allgemeinen Deutschen Sprachverein]. In: Preußische Jahrbücher 63 von Januar–Juni 1889, Heft 3 von März, S. 312–313. Zuvor hatte der Allgemeine Deutsche Sprachverein versucht, das Preußische Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten zu bestimmen, die Schulbehörden auf die Bestrebungen des allgemeinen deutschen Sprachvereins festzulegen (vgl. Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins 2 (1889), Nr. 1 vom 2.1.1889, Sp. 15). – Die Gegenerklärung wurde wiederabgedruckt in Delbrück: Treitschke über Sprachreinigung. In: Preußische Jahrbücher 155, Januar–März 1914, S. 133–136. Daraufhin erschien: Otto Sarrazin: Professor Dr. Hans Delbrück und der Allgemeine Deutsche Sprachverein. Eine geschichtliche Klarstellung. In: Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins 29 (1914), Heft 4, Sp. 105–112. Delbrück konterte mit dem Aufsatz: Die Antwort des Sprachvereins und Weiteres. In: Preußische Jahrbücher 157, Juli–September 1914, S. 118–123.▲