Bibliographic Metadata
- TitleWilhelm Jerusalem an Vaihinger, Wien, 6.6.1913, 4 S., hs, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 4 a, Nr. 3
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 4 a, Nr. 3
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Wilhelm Jerusalem an Vaihinger, Wien, 6.6.1913, 4 S., hs, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 4 a, Nr. 3
Hochverehrter Herr Geheimrat!
Für Ihren[a] Brief[1], der wie alles was von Vaihinger kommt, Aufrichtigkeit und herzliche Güte atmet sage ich Ihnen warmen Dank. Wenn doch nur ein einziger hier wäre, der fremde Leistungen so sympathisch aufnehmen könnte[b] wie Sie.
Mein Empirismus[c] ist allerdings nicht die Ursache, daß ich hier nicht die Stellung habe, die ich immer so heiß[d] ersehnte. Ich leide vielmehr unter einer mir ganz unverständlichen persönlichen Feindseligkeit, die Jodl, Stöhr[2] und Höfler unlängst in ganz auffallender Weise gegen mich betätigt haben. Vielleicht erzähle | ich Ihnen die Sache in Halle[e] wo ich Sie im Oktober, auf dem Wege nach oder von Berlin[f] – ich gehe zum Aesthetiker-Kongress[g][3] –besuchen will.
Zur Jahresversammlung wäre ich gerne gekommen, allein der Arzt schickte mich u. meine Frau[4] nach Meran[h] und von dort war es zu weit. Ich werde mich recht bemühn, im nächsten Jahr kommen zu können.[5]
Nun noch eine wissenschaftliche Frage an den Kenner der Kant-Litteratur. Ich höre, daß hier in der Nähe Jemand eine Handschrift besitzt, die ein Kollegienheft von Kants Vorlesungen üb[er] Logik[i] sein soll.[6] Nun ist ja Kants Logik nach seinen Notizen zu Meiers Vernunftlehre[7], das er seit 1765 zugrunde legte von Jaesche[8] herausgegeben.[9] Halten Sie es nun a priori[j] für möglich oder | wahrscheinlich, daß ein Kollegienheft, falls es echt ist, viel Neues enthält? Ist Ihnen etw[as] von Kollegienheften Kant’scher Schüler bekannt? Lohnt es jedenfalls die Mühe das Heft, das eben 400 Seiten stark sein soll anzusehn?
Bitte schreiben Sie mir darüber bald ein paar Zeilen.[10]
Meine neue „Einleitung“[11] wird sehr freundlich aufgenommen. Wundt u. Mach haben mir sehr gütig geschrieben.
Was sagen Sie zu Husserls neuer Phänomenologie[k][12]? Viel Scharfsinn, aber doch recht unfruchtbar. Sein Selbstbewußtsein ist sehr gewachsen. Wenn er von Fiktionen[l] spricht, so sehe ich immer deutlicher, wie viel tiefer Sie gegraben haben. |
Nochmals also besten Dank u. Wiederholung der Bitte um Ihre[m] Ansicht über das Kant-Manuskript[n]. In aufrichtiger Verehrung Ihr freundschaftlich ergebener
Dr W. Jerusalem
Wien 6/6
1913
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑Stöhr ] Adolf Stöhr (1855–1921), Philosoph, Psychologe, 1901 ao. Prof., 1911 o. Prof., Leiter des psychologischen Laboratoriums in Wien (BEdPh).3↑Aesthetiker-Kongress ] die Teilnehmer*innenliste des Kongresses für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft (Berlin, 7.–9.10.1913) führt nicht Jerusalem, aber Vaihinger auf, vgl. Ortsausschuss [der Vereinigung für ästhetische Forschung] (Hg.): Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Berlin 7.–9. Oktober 1913. Bericht. Stuttgart: Ferdinand Enke 1914 (Digitalisat: https://doi.org/10.11588/diglit.65507 (15.12.2023)), S. 10, 12, 15.4↑meine Frau ] Katharina Jerusalem, geb. Pollak (NDB, vgl. Schmidt, Raymund (Hg.): Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Bd. 3. (Digitalisat: https://archive.org/details/DiePhilosophieDerGegenwartInSelbstdarstellungen/ (15.12.2023)), S. 57).5↑Zur Jahresversammlung … kommen zu können. ] meint wahrscheinlich die Mitgliederversammlungen der Kantgesellschaft in Halle, 19.–20.4.1913 und 18.–20.4.1914. An letzterer nahm Jerusalem teil, vgl. Kant-Studien 19 (1914), S. 454.6↑Ich höre … Logik sein soll. ] das betreffende Manuskript wurde auf Jerusalems Vermittlung von der Universitätsbibliothek Wien angekauft (vgl. Jerusalem: Ein Kollegienheft von Kants Vorlesungen über Logik. Vorläufige Mitteilung. In: Kant-Studien 18 (1913), S. 538–542, hier S. 541) lagerte dort unter der Signatur Ms. II 859 und wurde in der sogenannten Akademie-Ausgabe der Werke Kants u. d. T. Wiener Logik ediert (vgl. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Hg.): Kant’s gesammelte Schriften. Vierte Abteilung. Vorlesungen. Bd. 1, 2. Hälfte. Berlin: De Gruyter 1966, S. 785–940 sowie S. 982); vgl. Vaihinger an Jerusalem vom 13.7.1913.7↑Meiers Vernunftlehre ] Georg Friedrich Meier (1718–1777), Philosoph, Schüler und Nachfolger Alexander Gottlieb Baumgartens, 1746 ao. Prof., 1748 o. Prof. in Halle; von Kant benutzt wurde nicht Meiers Vernunftlehre, sondern der im selben Jahr veröffentlichte Auszug daraus (BEdPh; vgl. Meier, Georg Friedrich: Auszug aus der Vernunftlehre. Halle: Johann Justinus Gebauer 1752. Digitalisat: https://archive.org/details/bub_gb_CkUMAAAAYAAJ/ (14.12.2023)).8↑Jaesche ] Gottlob Benjamin Jäsche (1762–1842), Philosoph, Promotion in Halle, 1799 Habilitation in Königsberg, 1802 Prof. in Dorpat (BEdPh).9↑Nun ist ja … herausgegeben. ] vgl. Jäsche, Gottlob Benjamin (Hg.): Immanuel Kants Logik ein Handbuch zu Vorlesungen. Königsberg: Friedrich Nicolovius 1800 (Digitalisat: https://archive.org/details/KantJaescheLogik1800/ (14.12.2023)).10↑Bitte … Zeilen. ] etwaiges Antwortschreiben Vaihingers nicht ermittelt, vgl. allerdings Vaihinger an Jerusalem vom 13.7.1913.11↑Meine neue „Einleitung“ ] vgl. Jerusalem, Wilhelm: Einleitung in die Philosophie. 5. u. 6. Aufl. Wien/Leipzig: Braumüller 1913 (Digitalisat: https://archive.org/details/einleitungindiep00jeruuoft/ (14.12.2023)). 1. Aufl. 1899.12↑Husserls neuer Phänomenologie ] vgl. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. In: Ders. (Hg.): Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. Bd. 1. S. 1–323. Halle: Niemeyer 1913 (zugleich auch als Separatdruck im selben Verlag).▲