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- TitleVaihinger an Maximilian Harden, Halle, 1.8.1911, 7 S., hs., Briefkopf PROF. DR. H. VAIHINGER | Halle a. S., d. … 19…. | Reichardtstr. 15, Fotokopie in Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Harden, N1062-108
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- Physical LocationFotokopie in Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Harden, N1062-108
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Vaihinger an Maximilian Harden, Halle, 1.8.1911, 7 S., hs., Briefkopf PROF. DR. H. VAIHINGER[a] | Halle a. S., d. … 19…. | Reichardtstr. 15, Fotokopie in Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Harden, N1062-108
1. Aug[ust] 1911.
Hochgeehrter Herr Harden!
Mit verbindlichstem Dank für den baldigen Druck meiner Selbstanzeige[1] sende ich Ihnen deren Correktur anbei zurück.
Ich benütze diese Gelegenheit, um Einen von den verschiedenen Punkten, die Sie in der letzten Zeit in der „Zukunft“ besprochen haben, herauszugreifen, und Ihnen Dank und Zustimmung zu Ihren instructiven Ausführungen[2] auszusprechen. Es betrifft das lenkbare Luftschiff meines berühmten persönlich sehr verehrungswürdigen Landsmannes, des Grafen | Zeppelin[3]. Ich hatte schon längst gewünscht, daß das, was Sie gesagt haben, von irgend Jemand öffentlich gesagt werden solle. Sicher ist das lenkbare Luftschiff Zeppelins eine, besonders äußerlich, großartige Sache, aber doch mehr nur eine große Kuriosität, als eine praktisch brauchbare große Erfindung. Besonders vom militärischen Standpunkt aus ist es praktisch nicht verwendbar. Ich habe diese Ansicht von Anfang an gehabt, so imposant die Fahrt des Zeppelin’schen Schiffes über Stuttgart am 5. Aug[ust] 1908 war, welche (unmittelbar vor dem Unglück in Echtersheim)[4] mit angesehen zu haben, immerhin zu[b] den interessantesten Erinnerungen meines Lebens gehört. Aber, weil ich die Sache für[c] militärisch unfruchtbar hielt, | habe ich auch zu der bald darauf inscenirten großen Sammlung für Zeppelin[5] nichts gegeben trotzdem Zeppelin damals so populär war, daß die kleinen Kinder in Halle[d] auf der Straße sangen:
Zeppelin hin, Zeppelin her,
Zeppelin hat kein Luftschiff mehr.
Zeppelin auf, Zeppelin nieder:
Zeppelin hat sein Luftschiff wieder.
Schon damals[e] hielt ich die zu jener Zeit in Deutschland überall (und besonders auch in militärischen Kreisen) ganz mißachteten Flugapparate für viel wichtiger: für theoretisch wichtiger, denn die freie[f] Erhebung eines mehr-als-die-Luft-schweren Gegenstandes durch rein mechanische Kraft ist eine der größten technischen Erfindungen aller Jahrhunderte ja aller Jahrtausende u. aber auch für praktisch-wichtiger, denn mit Flug|apparaten läßt sich praktisch, besonders für militärische Zwecke, sehr viel mehr machen, als mit den lenkbaren Luftschiffen, schon wegen der ungeheuren Größe der Letzteren.
Nun aber zu einer anderen praktischen Frage. Was soll mit dem Sechs-Millionen-Fond[g] werden, den das deutsche Volk dem Grafen Zeppelin einst in schönem, aber übergroßen, und etwas unkritischem Enthusiasmus überwiesen hat? Juristisch wird die Sache wahrscheinlich nicht ganz klar liegen, wie gewöhnlich bei solchen „Sammelvermögen“, wie die Juristen sich ausdrücken. Aber moralisch scheint mir die Sache sehr klar zu liegen: der Fond müßte doch wol in eine solche Stiftung ver|wandelt werden, welche zwar[h] natürlich zumeist der Förderung des lenkbaren Luftschiffes dienen soll, die aber doch dahin ausgedehnt werden sollte, daß die Gelder auch, besonders für den Fall, daß das lenkbare Luftschiff militärisch nicht praktisch verwendbar sein sollte, dem Flugwesen zu Gute kommen, insbesondere dem militärischen. Denn die Sammlung der 6 Millionen ist doch wesentlich unter dem Gesichtspunkt erfolgt, daß für Deutschland dadurch ein Vorsprung auf militärischem Gebiet geschaffen werden sollte. Sechs Millionen sind eine imposante Summe, wie | kein anderes Volk so leicht für eine solche Sache zusammengebracht hätte. Aber die Sammlung ist unter dem Irrthum erfolgt, das lenkbare Luftschiff sei eine militärisch wichtige und fruchtbare Sache.
Graf Zeppelin wird als ein edler Mensch geschildert. Dann wird er auch den Edelmut besitzen, jenen Fond in eine solche Stiftung zu verwandeln, welche dem deutschen Volke wirklich Nutzen bringt. Vielleicht, ja wahrscheinlich hat er dies auch schon gethan.[6] Aber die Stiftung darf sich unmöglich blos auf lenkbare Luftschiffe beziehen, deren praktische Brauchbarkeit[i] für die | zukünftige technische, besonders militärisch-technische Entwicklung so überaus zweifelhaft[j] ist.
Vielleicht nehmen[k] Sie, hochgeehrter Herr Harden, die Veranlaßung auch diesen wichtigen Punkt der Zeppelin-Frage offen zur Sprache zu bringen. Ich glaube, das deutsche Volk hat ein moralisches Recht darauf zu erfahren, was aus den sechs Millionen bis jetzt geworden ist, und was in Zukunft daraus werden soll?
Mit vorzüglicher Hochachtung Ihr ergebener
Prof. Dr. H. Vaihinger
Geheimer Regierungsrat.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑meiner Selbstanzeige ] vgl. Vaihinger: Selbstanzeige: Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche. Verlag von Reuther & Reichard in Berlin. In: Die Zukunft 76 (1911), Hg. Maximilian Harden, Heft vom 30.9.1911, S. 455–458; vgl. Harden an Vaihinger vom 27.5.1911.2↑Einen … besprochen haben ] vgl. zum Thema Zeppelin jüngst etwa o. A.: Sonnenwende. Luftschiffbau Zeppelin. In: Die Zukunft 75 (1911), Hg. Maximilian Harden, Heft vom 10.6.1911, S. 342–357; o. A.: Julifloren: Schwarz und Zeppelin. In: Die Zukunft 76 (1911), Hg. Maximilian Harden, Heft vom 8.7.1911, S. 37–42; sowie o. A.: Restanten: Das System Zeppelin. In: Die Zukunft 76 (1911), Hg. Maximilian Harden, Heft vom 22.7.1911, S. 114–121.3↑Zeppelin ] Ferdinand Graf von Zeppelin (1838–1917), Luftschiffkonstrukteur, 1858 Kavallerieoffizier in Württemberg, 1887 Brigadekommendeur in Ulm, Gesandter und Bevollmächtigter beim Bundesrat, 1890 Brigadekommandeur in Saarburg, 1891 Abschied vom Militärdienst, 1892/1893 Entwurf eines starren Luftschiffs, 1898 Gründung einer Gesellschaft zur Förderung der Luftschiffahrt AG zum Bau eines ersten Luftschiffs LZ 1 (Jungfernflug 2.7.1900), nach Explosion von LZ 4 1908 Spendenaktion zur Weiterarbeit, 1910–1914 mehrere Luftschifffahrten über Deutschland, Einsatz im 1. Weltkrieg, 1937 Brandexplosion des im selben Jahr hergestellten, letzten Luftschiffs LZ 129, anschließend Bau eingestellt (DBE).4↑Fahrt … Echtersheim) ] am Nachmittag des 5.8.1908 wurde das Luftschiff LZ 4, nachdem es zuvor Stuttgart passiert hatte, während einer Zwischenlandung bei Echterdingen [!] (südlich von Stuttgart, heute Leinfelden-Echterdingen) von einer Windböhe erfasst, aus der Verankerung gerissen und zerstört, wobei drei Personen verletzt wurden. LZ 4 befand sich auf einer 24-stündigen Fahrt, die bereits am 4.8.1908 begonnen hatte und deren Absolvierung vom Militär zur Bedingung des Ankaufs gemacht worden war, vgl. Kleinheins, Peter / Meighörner, Wolfgang (Hg.): Die großen Zeppeline. Die Geschichte des Luftschiffbaus. 3. Aufl. Berlin/Heidelberg: Springer 2005, S. 20 und S. 138–140; sowie Höhler, Sabine: Nation im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit. Das Zusammentreffen des Grafen von Zeppelin, eines Luftschiffes und des deutschen Volkes im „Wunder von Echterdingen“ 1908. In: Technik und Identität (= Institut für Wissenschafts- und Technikforschung (IWT). IWT-Paper 26), hg. v. Astrid Epp, Niels C. Taubert und Andrea Westermann. Bielefeld: o. V. 2002, S. 14–32, hier S. 19, online abrufbar unter: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0070-pub-19199109 (21.3.2024).5↑großen Sammlung für Zeppelin ] nach dem Verlust von LZ 4 in der sogenannten „Katastrophe von Echterdingen“ riefen verschiedene Tageszeitungen zu einer Spendenaktion auf, die innerhalb einiger Wochen über 6 Millionen Mark einbrachte und als „Wunder von Echterdingen“ bezeichnet wird, vgl. Höhler, Sabine: Nation im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit. Das Zusammentreffen des Grafen von Zeppelin, eines Luftschiffes und des deutschen Volkes im „Wunder von Echterdingen“ 1908. In: Technik und Identität (= Institut für Wissenschafts- und Technikforschung (IWT). IWT-Paper 26), hg. v. Astrid Epp, Niels C. Taubert und Andrea Westermann. Bielefeld: o. V. 2002, S. 14–32, hier S. 20, online abrufbar unter: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0070-pub-19199109 (21.3.2024).6↑Vielleicht … gethan. ] die Spenden aus dem sogenannten „Wunder von Echterdingen“ waren in die (bis heute, mit geändertem Stiftungszweck bestehende und) am 29.3.1909 genehmigte Zeppelin-Stiftung eingeflossen. Der Stiftungszweck war in der Stiftungsurkunde wie folgt bestimmt worden: a) ein Luftschiff an Stelle des bei Echterdingen zerstörten zu beschaffen und mir [Zeppelin], und sofern ich gestorben wäre, meinen Erben, unentgeltlich auszuliefern. b) Bestrebungen zur Förderung der Luftschiff-Fahrt, sowie deren Verwertung für die Wissenschaft zu unterstützen, c) Unternehmungen, welche den Bau, Betrieb oder Verkauf von Luftfahrzeugen zum Gegenstand haben, oder mit den obengenannten Bestrebungen und Unternehmungen irgendwie in Beziehung stehen oder solchen ganz oder teilweise ihre Entstehung verdanken oder solche in irgend einer Weise zu fördern geeignet sind, zu unterstützen oder sich hieran zu beteiligen. (Xerokopie der Originalurkunde im Stadtarchiv Friedrichshafen (StA FN 4/1), zitiert nach Oellers, Jürgen: Von den unternehmerischen Anfängen bis zur Zeppelin-Stiftung 1898 bis 1919. In: Stadt Friedrichshafen (Hg.): Zeppelin 1908 bis 2008. Stiftung und Unternehmen (= Schriftenreihe des Stadtarchivs Friedrichshafen 7). München/Zürich: Piper 2008, S. 31–70, hier S. 49; vgl. ebd., S. 48; vgl. die Bekanntmachung des Ministeriums des Innern, betreffend die Genehmigung der Zeppelinstiftung in Friedrichshafen. In: Königlich-Württembergisches Ministerium des Innern: Regierungsblatt für das Königreich Württemberg vom 1.4.1909. Stuttgart: Schäufele 1909, S. 56).▲