Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Ernst Mach, Halle, 20.5.1911, 5 S., hs. (andere Hd., mit eU), Briefkopf PROF. DR. H. VAIHINGER. Halle a. S., d. … 19 | Reichardtstr. 15., Deutsches Historisches Museum München, Nachlass Ernst Mach, https://digital.deutsches-museum.de/item/NL-174-3116/
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Vaihinger an Ernst Mach, Halle, 20.5.1911[1], 5 S., hs. (andere Hd., mit eU), Briefkopf PROF. DR. H. VAIHINGER. Halle a. S., d. … 19 | Reichardtstr. 15., Deutsches Historisches Museum München, Nachlass Ernst Mach, https://digital.deutsches-museum.de/item/NL-174-3116/
20. Mai 1911.
Hochverehrter Herr College!
Haben Sie verbindlichsten Dank für die liebenswürdige Uebersendung Ihrer beiden Publikationen, sowohl der einen aus Ihrer Frühzeit[2], als der anderen aus der Gegenwart; ich habe beide mit großem Interesse gelesen und daraus ersehen, daß Sie schon im Jahre 1871 die Grundlinien Ihrer Anschauung gelegt haben, welche Sie in Ihren verschiedenen monumentalen Werken zum Ausdruck gebracht haben. Von besonderem Interesse war es mir in der 2. Abhandlung[3] zu lesen, daß Sie in Ihrer Jugend durch Kant beeinflußt waren. |
Der Verfasser des Werkes, das ich Ihnen zugesandt habe[4], bin ich selbst[a]; ich habe es geschrieben, als ich noch nicht 25 Jahre alt war und publiciere es jetzt als bald 60jähriger. Aus diesem Grunde habe ich mich als Herausgeber bezeichnet, da ich dem Werk, welches ich nicht umarbeiten konnte, und aus verschiedenen Gründen nicht umarbeiten wollte, jetzt ganz objektiv gegenüberstehe; auch hätte es einen wunderlichen Eindruck gemacht, wenn ich ein so altes Werk so ohne Weiteres unter meinem Namen herausgegeben hätte. So zog ich aus aesthetisch-literarischen Gründen die Fiktion[b] vor, als seien Herausgeber und Verfasser getrennte Persönlichkeiten; aber ich mache gar kein Hehl daraus, daß | ich der Verfasser bin – im Gegenteil – ich wünsche, daß es bekannt wird und teile es auch Jedem mit. Auch ist es denjenigen, welche mit meinen früheren Schriften bekannt sind und insbesondere mit meiner Stellung zu F. A. Lange[c], ohne Weiteres unzweifelhaft.
Als ich im Jahre 1877 das Buch schrieb, kannte ich leider Ihre Abhandlung von 1872[5] nicht; um so wertvoller ist es, daß wir, auf getrennten Wegen marschierend, doch in einigen Hauptpunkten zusammentreffen.
Es würde mich außerordentlich freuen, wenn Sie dem Buch Ihre Aufmerksamkeit[d] schenken wollten; vielleicht haben Sie unterdessen die Zeit gefunden, sich mit demselben näher zu beschäftigen. Das Buch findet von | den verschiedensten Seiten gute Aufnahme; man erkennt an, daß es zur rechten Zeit kommt, um in die Diskussion einzugreifen besonders auch in die durch den Pragmatismus[e] hervorgerufene. Speziell aus Wien[6] habe ich freundliche Worte der Aufnahme bekommen, und so würde es mich auch sehr freuen, von Ihnen erfahren zu dürfen, was Sie über das Buch denken.
Freilich wäre es eine zu schwere Zumutung[f] an Sie, das dicke Buch ganz durchlesen zu sollen, aber das Vorwort des Verfassers und die detaillirte Inhaltsangabe sowie auch das Sachregister ermöglichen es ja, dasjenige leicht herauszufinden, was den Einzelnen besonders interessieren kann; so werden Sie diejenigen Punkte, welche Ihnen | besonders[g] nahe liegen könnten, ohne große Mühe auffinden und auf diese Weise sich ein abschließendes Urteil bilden.
Gerade weil ich selbst auch schon dem Greisenalter entgegengehe, und nicht mehr allzuviel Jahre des Wartens habe, würde es mich freuen, von Ihnen zu erfahren, welchen Eindruck das Buch auf Sie macht.
In collegialer Verehrung Ihr ganz ergebenster
H. Vaihinger
Mein Besuch bei Ihnen, dessen ich mich mit Vergnügen erinnere, fällt in das Jahr 1884[7].
Ich bin in der Tat 14 Jahre jünger als Sie; ich schrieb das Buch als 25jähriger 1877.[h]
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Vaihinger an Ernst Mach, Halle, 20.5.1911 ] Erstabdruck in: K. D. Heller: Ernst Mach. Wegbereiter der modernen Physik. Mit ausgewählten Kapiteln aus seinem Werk. Mit 1 Porträt. Wien/New York: Springer 1964 (https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2F978-3-7091-8112-6.pdf (3.9.2024)), S. 164–165.2↑aus Ihrer Frühzeit ] vermutlich von: Mach: Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit. Vortrag gehalten in der K. Böhm. Gesellschaft der Wissenschaften am 15. Nov. 1871. Prag: Calve 1872.3↑2. Abhandlung ] vgl. Mach: Die Leitgedanken meiner naturwissenschaftlichen Erkenntnislehre und ihre Aufnahme durch die Zeitgenossen. In: Scientia. Rivista di Scienza 7 (1910), S. 225–240, hier S. 234: Ich muss noch einer für meine Denkrichtung bestimmenden Anregung gedenken. Es ist zeitlich die erste, die ich aber aus besondern Gründen zuletzt erwähne. Schon 1853, in früher Jugend wurde meine naiv-realistische Weltauffassung durch die „Prolegomena“ von Kant mächtig erschüttert. Indem ich ein oder zwei Jahre später das „Ding an sich“ instinktiv als müssige Illusion erkannte, kehrte ich auf den bei Kant latent enthaltenen Berkeleyschen Standpunkt zurück. Die idealistische Stimmung vertrug sich aber schlecht mit physikalischen Studien. […] Nach Beendigung der Universitätsstudien fehlten zum Unglück oder Glück die Mittel zu physikalischen Untersuchungen, wodurch ich zunächst auf das Gebiet der Sinnesphysiologie gedrängt wurde. Hier, wo ich meine Empfindungen, zugleich aber deren Bedingungen in der Umgebung beobachten konnte, gelangte ich, wie ich glaube, zu einer natürlichen, von spekulativ-metaphysischen Zutaten freien Weltauffassung. Die durch Kant eingepflanzte Abneigung gegen die Metaphysik, sowie die Analysen Herbart’s und Fechner’s führten mich auf einen dem Humeschen nahe liegenden Standpunkt zurück. – Bei Mach: Die Analyse der Empfindungen, 6. Aufl. 1911 heißt es S. 24, Anm.: Ich habe es stets als besonderes Glück empfunden, daß mir sehr früh (in einem Alter von 15 Jahren etwa) in der Bibliothek meines Vaters Kants „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik“ in die Hand fielen. Diese Schrift hat damals einen gewaltigen unauslöschlichen Eindruck auf mich gemacht, den ich in gleicher Weise bei späterer philosophischer Lektüre nie mehr gefühlt habe. Etwa 2 oder 3 Jahre später empfand ich plötzlich die müßige Rolle, welche das „Ding an sich“ spielt. An einem heitern Sommertage im Freien erschien mir einmal die Welt samt meinem Ich als eine zusammenhängende Masse von Empfindungen, nur im Ich stärker zusammenhängend. Obgleich die eigentliche Reflexion sich erst später hinzugesellte, so ist doch dieser Moment für meine ganze Anschauung bestimmend geworden. Übrigens habe ich noch einen langen und harten Kampf gekämpft, bevor ich imstande war, die gewonnene Ansicht auch in meinem Spezialgebiete festzuhalten.▲