Bibliographic Metadata
- TitleWilhelm Windelband an Vaihinger, Heidelberg, 16.3.1911, 3 S., hs. (lat. Schrift), Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 9
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 9
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Wilhelm Windelband an Vaihinger, Heidelberg, 16.3.1911, 3 S., hs. (lat. Schrift), Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 9
Heidelberg, 16.3.11.
Hochgeehrter Herr Kollege,
Besten Dank für Ihren freundlichen Brief[1] und Ihre liebenswürdige Erkundigung nach meinem Befinden[2]. ich[a] habe mich allerdings genötigt, d. h. durch die auf meine Schonung allzu sehr bedachten Aerzte veranlasst gesehen, meine Vorlesungen für den Rest des Semesters – im Ganzen den Monat Februar – abzusagen; aber die törichten Zeitungen[3] haben daraus viel mehr gemacht, und so sind auch die Gerüchte, dass ich nicht nach Bologna[4] gehen würde, zum mindesten verfrüht[5]; sie sind auch schon dorthin gedrungen, Enriques fragte gestern bei mir an[6]. Es ist leider richtig, dass nicht nur Eucken sich zurückgezogen, sondern auch Riehl „aus Gesundheitsrücksichten“ abgesagt[7] hat. Wenn nun auch Sie nicht kommen[8], dann sind wir aller|dings recht mässig vertreten, und das ist für mich ein starker moralischer Appell, hinzugehen, wenn ichs irgend vermag. Aber bestimmt kann ichs noch nicht sagen. Krehl[9], unser Kliniker, der mich überwacht, kommt von einer kleinen Reise erst am Sonntag zurück, und dann wird sich’s entscheiden.
Dass Sie die Arbeit von Lanz annehmen[10] wollen, freut mich sehr; sie verdient es m. E. wegen ihrer feinen und scharfsinnigen Behandlung des interessanten Thema’s durchaus. Uebrigens hängt er mit der Mannheimer Millionenfamilie[11], die unsre Akademie dotiert hat, ganz und garnicht zusammen, ist vielmehr ein in America geborner und dort staatsangehöriger Russe, jüdischer Deutschrusse, der irgendwo einen Zugang zur akademischen Lehrtätigkeit sucht, für die ich ihn nach seinen Vorträgen im Seminar für gut befähigt halte. |
Dass aus der Berufung von Medicus nach Zürich[12] etwas geworden ist, freut mich sehr; ich habe auf Anfrage lebhaft für ihn gesprochen[13]. Dabei habe ich zu meinem Staunen erfahren, dass man sich dort doch ziemlich stark an die Meldungen zu halten[14] scheint.
Das Ms. über die beabsichtigte Rede über Metaphysik der Zeit[15] wird erst in diesen Tagen fertig. Ob es so über Thesenhaftigkeit hinaus ausgeführt wird, dass es sich für Ihre K[ant-] St[udien] eignet, weiss ich noch nicht. Wenn es der Fall ist, schicke ichs Ihnen. Uebrigens habe ich neulich die lang versäumte Anmeldung zur Kantgesellschaft[16] endlich zur Ausführung gebracht.
Was macht Ihr Buch[17], von dem Sie mir vor Jahresfrist schrieben[18]? ich freue mich sehr darauf.
Mit aufrichtigen Wünschen für Ihre Gesundheit und besten Grüssen von Haus zu Haus ergebenst der Ihrige
W Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑Befinden ] vgl. Emil Lask an Gustav Radbruch, o. D. (nach 10.3.1911): Lieber Radbruch! Bitte halten Sie außer gegenüber Jaspers’ meine Äußerung von Frau Weber über Windelbands Krankheit möglichst geheim. Alle, die ich sprach, Oncken, Fleiner usw. wußten nichts von einer Herzaffektion. Frau Jaspers schien dies für bekannter zu halten als es ist. Ich habe sie um Geheimhaltung gebeten. Herzlich Ihr Lask (Universitätsbibliothek Heidelberg, Hs. 3716).4↑nicht nach Bologna ] zum IV. Internationalen Kongreß für Philosophie, 5.4.–11.4.1911 in Bologna. Windelband nahm nicht teil.5↑verfrüht ] bereits am 28.3.1911 wurde Simmel als Ersatz für Windelband angefragt, dieser lehnte jedoch ab, vgl. Georg Simmel an Hermann Graf Keyserling vom 30.3.1911, in: Georg Simmel Gesamtausgabe Bd. 22, S. 957.6↑fragte gestern bei mir an ] als Organisator des 4. Internationalen Kongresses für Philosophie in Bologna. Schreiben nicht ermittelt. – Federigo Enriques (1871–1946) Mathematiker, Studium bis 1891 an der Universität Pisa, danach in Rom und Turin. 1896 Prof. für Geometrie in Bologna, 1923 in Rom (http://www-history.mcs.st-andrews.ac.uk/Biographies/Enriques.html; 3.3.2023).8↑Sie nicht kommen ] Vaihinger ist zwar unter den Teilnehmern des Kongresses aufgeführt, nahm aber nicht persönlich teil, vgl. Federigo Enriques an Vaihinger vom 4.4.1911. Vaihinger ließ dem Kongreß am 11.4.1911 sein Werk Philosophie des Als Ob überreichen, vgl. Atti del IV Congresso Internazionale di Filosofia Bd. 1, 1911, S. 297–309.9↑Krehl ] Ludolf Krehl, vgl. Windelband an Max Weber vom 12.12.1910 (Bohr/Hartung: Forschungsgrundlagen Wilhelm Windelband, 2020).10↑Arbeit von Lanz annehmen ] zum Druck, vgl. Heinrich Lanz: Das Problem der Gegenständlichkeit in der modernen Logik [Teil] I. Kants Lehre von der Objektivität. Diss. Heidelberg 1911. 53 S. Vollständig erschienen als: Das Problem der Gegenständlichkeit in der modernen Logik. Berlin: Reuther & Reichard 1912 (Kantstudien Ergänzungsheft Nr. 26). 163 S. Vita zur Dissertation: Als Sohn des Privatbeamten Ernst Lanz bin ich am 20. Januar 1886 zu Moskau geboren. Im August 1896 [!] bezog ich das IV. Gymnasium zu Moskau, welches ich im Frühjahr 1894 [!] absolviert habe. Im September 1904 wurde ich in der mathematischen Fakultät der Kaiserlichen Universität Moskau immatrikuliert. Ostern 1906 kam ich nach Heidelberg, wo ich mich dem Studium der Philosophie und Geschichte widmete. Ich hörte die Vorlesungen der Herren Professoren Windelband, Lask, Elsenhans, Marx, Cartellieri, Oncken, Jellinek und Gothein und habe an den Übungen im philosophischen Seminar teilgenommen. Am 15. Juli 1910 bestand ich die Doktorprüfung. Allen meinen Lehrern, vor allem aber dem Herrn Geh. Rat Windelband und dem Herrn Prof. Lask möchte ich an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen.11↑Mannheimer Millionenfamilie ] Firma Heinrich Lanz, Mannheim (Landmaschinen), vgl. Die Eröffnungsfeier der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (Stiftung Heinrich Lanz) vom 3. Juli 1909. Heidelberg: C. Winter 1909.12↑Berufung von Medicus nach Zürich ] Fritz Medicus (1876–1956), 1901 in Halle habilitiert, dort von 1901–1911 PD und Privatsekretär von Vaihinger, war 1911–1946 Prof. der Philosophie u. Pädagogik in Zürich (NDB).14↑an die Meldungen zu halten ] gemeint ist: von Regierungsseite zu berufen, wen die Fakultät vorschlägt.15↑beabsichtigte Rede über Metaphysik der Zeit ] für den Kongreß in Bologna. Dieses Vortragsthema ist belegt in der Ankündigung des Kongresses in Kant-Studien 15 (1910), S. 545 sowie in Hugo Bergmanns Bericht aus Bologna: Der Philosophenkongreß in Bologna. In: Pester Lloyd, Nr. 89 vom 15.4.1911, Morgenblatt, S. 5–6 (Austrian Newspapers Online). Kein Beleg im Kongreßbericht. Windelband hat unter diesem Titel nichts veröffentlicht.16↑Anmeldung zur Kantgesellschaft ] Windelbands Eintritt in die Kant-Gesellschaft wird für den Zeitraum Januar–März 1911 vermerkt in: Kant-Studien 16 (1911), S. 129.▲