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- TitleWilhelm Jerusalem an Vaihinger, Wien, 17.7.1910, 4 S., hs., Briefkopf Wien, XIII/6, … | Fichtnergasse 2, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 4 a, Nr. 2
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 4 a, Nr. 2
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Wilhelm Jerusalem an Vaihinger, Wien, 17.7.1910, 4 S., hs., Briefkopf Wien, XIII/6, … | Fichtnergasse 2, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 4 a, Nr. 2
17/7 10.
Hochverehrter Herr Professor!
Von einem kurzen Ausflug zurückgekehrt[a], finde ich Ihren Brief[1], für den ich Ihnen zunächst von ganzem Herzen danke. Daß Sie das Vertrauen zu mir haben und der Meinung sind, ich sei imstande, das Preisthema[b][2] in einer Ihren Intentionen gemäßen Weise gründlich und fruchtbar zu bearbeiten, das hat mir innerlich so wohlgetan, wie schon lange nichts.
Wäre ich zehn Jahre jünger, so | wäre mein Entschluß sofort gefaßt. In meinem Alter habe ich Bedenken, ob ich drei Jahre[3] einer Arbeit widmen darf, die mich von meinen andern wissenschaftlichen Plänen abzieht.
Ich bin gegenwärtig mit einer pädagogischen[c] Arbeit[4] beschäftigt, die unbedingt im Frühjahr 1911 erscheinen muß. Dann beschäftigt mich schon lange eine Soziologie des Erkennens[d][5], die wie ich glaube, eine Lücke in der Erkenntnistheorie[e] auszufüllen geeignet ist.
Ferner möchte ich nicht streben[f], | ohne meine Ethik[g], die unter dem Titel Menschenpflicht[h] und Menschenwürde[i][6] im Rumpfe[j] fast fertig ist, herauszubringen.
Trotzdem reizt mich Ihre Preisaufgabe sehr. Schon die Freude Kant von Anfang bis zu Ende noch einmal durchzuarbeiten lockt mich sehr. Erlauben Sie deshalb noch eine Frage. Ist es nicht gegen die Intention der Preisausschreibung[k], wenn sich an die Darstellung[l] des Kant’schen Wahrheitsbegriffes auch eine positive selbständige Bear|beitung anschliesse[m]? Ferner Ist[n] der Umfang irgendwie beschränkt?
Meinen endgiltigen Entschluß kann ich erst nach der Vollendung der zum großen Teile bereits fertigen pädagogischen[o] Arbeit fassen, hoffe aber jedenfalls inzwischen zur Materialsammlung Zeit zu finden.
Auf Ihr neues Buch[7] bin ich sehr gespannt. Sehr freue ich mich darauf, Sie in Bologna wiederzusehen[8].
Mit innigem Danke und in aufrichtiger Verehrung bin ich Ihr sehr ergebener
W. Jerusalem
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑das Preisthema ] meint nach dem Folgenden das 5. Preisausschreiben der Kantgesellschaft, vgl. Vaihinger: Fünftes Preisausschreiben der „Kantgesellschaft“. Kants Begriff der Wahrheit und seine Bedeutung für die erkenntnistheoretischen Fragen der Gegenwart. In: Kant-Studien 15 (1910), S. 395–398. Datiert im Juli 1910. Eine Teilnahme Jerusalems ist in den Akten, die Kantgesellschaft und die Kantstiftung betreffend (Universitätsarchiv Halle, Rep. 6, Nr. 1862–1868, 2022 sowie 2024–2026), nicht ermittelt.3↑drei Jahre ] die Frist für das 5. Preisausschreiben der Kantgesellschaft war auf den 22.4.1913 gesetzt, vgl. Vaihinger: Fünftes Preisausschreiben der „Kantgesellschaft“. Kants Begriff der Wahrheit und seine Bedeutung für die erkenntnistheoretischen Fragen der Gegenwart. In: Kant-Studien 15 (1910), S. 395–398, hier S. 397.4↑pädagogischen Arbeit ] das Publikationsverzeichnis zu Wilhelm Jerusalem (vgl. Jerusalem, Edmund: Verzeichnis der Veröffentlichungen Wilhelm Jerusalems. Wien: Braumüller 1925) verzeichnet im fraglichen Zeitraum mehrere pädagogische Veröffentlichungen: unter Nr. 196 das erst 1912 erschienene Jerusalem: Die Aufgaben des Lehrers an höheren Schulen. Erfahrungen und Wünsche [Zweite, neu verfaßte Auflage von Jerusalem: Die Aufgaben des Mittelschullehrers. Wien: Braumüller 1903]. Wien: Braumüller 1912; unter Nr. 193 einen bereits 1911 veröffentlichten Auszug aus dieser Schrift u. d. T.: Die Autorität des Lehrers. In: Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene 12 (1911), S. 368–381; unter Nr. 195 Jerusalem: Über den Unterricht in der philosophischen Propädeutik am Gymnasium. In: Verhandlungen der einundfünfzigsten Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner zu Posen (3.–6. Oktober 1911). Leipzig: [Verlag nicht ermittelt] 1912, S. 31–34 u. S. 40.5↑Soziologie des Erkennens ] u. d. T. war bereits erschienen Jerusalem: Soziologie des Erkennens. In: Zukunft vom 15.5.1909, S. 236–246; später erschien Jerusalem: Soziologie des Erkennens. Bemerkungen zu Max Schelers Aufsatz „Die positivistische Geschichtsphilosophie des Wissens und die Aufgabe einer Soziologie des Erkennens“. In: Kölner Vierteljahreshefte für Sozialwissenschaften. Reihe A: Soziologische Hefte 1 (1921 [!]), S. 28–34; vgl. Jerusalem, Edmund: Verzeichnis der Veröffentlichungen Wilhelm Jerusalems. Wien: Braumüller 1925.6↑meine Ethik … Menschenwürde ] nicht ermittelt, das Publikationsverzeichnis für Jerusalem weist keine Schrift dieses Titels nach, vgl. Jerusalem, Edmund: Verzeichnis der Veröffentlichungen Wilhelm Jerusalems. Wien: Braumüller 1925.7↑Ihr neues Buch ] meint wahrscheinlich Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche. Herausgegeben von H. V. Berlin: Reuther & Reichard 19118↑Sie in Bologna wiederzusehen ] meint wahrscheinlich den IV. Internationalen Kongress für Philosophie (Bologna, 6.–11. April 1911). Vaihinger ließ dem Kongreß am 11.4.1911 zwar sein Werk Philosophie des Als Ob überreichen, nahm selbst aber nicht teil, vgl. Atti del IV Congresso Internazionale di Filosofia Bd. 1, 1911, S. 21, S. 297–309, S. 348 sowie Windelband an Vaihinger vom 16.3.1911.▲