Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Heinrich Rickert, Halle, 30.5.1910, 7 S., hs. (von anderer Hd., mit eU und eigenhändigem Zusatz), Briefkopf KANTGESELLSCHAFT. Halle a. S., d. … 19 | Reichardtstr. 15. | GESCHÄFTSFÜHRER: PROF. DR. H. VAIHINGER, Universitätsbibliothek Heidelberg, Heid. Hs. 2740 III A 208 9–10
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- Physical LocationUniversitätsbibliothek Heidelberg, Heid. Hs. 2740 III A 208 9–10
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Vaihinger an Heinrich Rickert, Halle, 30.5.1910, 7 S., hs. (von anderer Hd., mit eU und eigenhändigem Zusatz), Briefkopf KANTGESELLSCHAFT. Halle a. S., d. … 19 | Reichardtstr. 15. | GESCHÄFTSFÜHRER: PROF. DR. H. VAIHINGER, Universitätsbibliothek Heidelberg, Heid. Hs. 2740 III A 208 9–10
30.V.1910
Verehrtester Herr Kollege!
Für die liebenswürdige Übersendung Ihres Einführungsartikels zu der neuen Zeitschrift „Logos“[1], als deren Spiritus Rector Sie ja wohl zu betrachten sind, spreche ich Ihnen meinen verbindlichsten Dank aus. Ihr Artikel geht ja trotz aller Weiterbildung so wesentlich vom Kantischen Grundgedanken aus, daß zu erwarten ist, daß die neue Zeitschrift mit den älteren Kantstudien stets in guten Beziehungen[2] bleiben wird; und als ein Ausdruck dieser Gesinnung mögen Sie es zugleich betrachten, wenn | ich mir erlaube, Ihnen folgende Bitte vorzutragen.
Wie Sie aus der Beilage[3] ersehen, will die Kantgesellschaft eine neue Preisaufgabe ausschreiben; das Thema dieser Preisaufgabe habe ich selbst gestellt. Schon vor 6 Jahren wollte ich dieses Thema ausschreiben, aber damals trat ich zurück hinter den Wunsch von Riehl, das Thema „Kant-Aristoteles“[4] als erstes Preisausschreiben der Kantgesellschaft zu erlassen. Wie notwendig aber gerade die Erörterung dieses Themas ist, hat die Weiter-Entwickelung der Philosophie in den letzten 6 Jahren gezeigt: der Begriff der Wahrheit ist immer mehr in den Vordergrund des Interesses getreten: und so darf dieses Thema als ein aktuelles im besten Sinne des Wortes bezeichnet werden, während es doch zugleich das uralte Problem der Philosophie selbst betrifft. |
Als Preise sind in Aussicht genommen: entweder 2: I. 1500 Mk II. 1000 Mk, oder 3: I. 1200 Mk II. 800 Mk, III. 500 Mk.
Die Tätigkeit der Preisrichter soll angemessen honoriert werden: jeder soll circa 200 Mk erhalten.
Ich möchte Sie nun ersuchen, hochverehrter Herr Kollege, mir gütigst recht bald[a] mitzuteilen, ob Sie principiell geneigt wären, ein Preisrichteramt zu übernehmen[5]; ich verkenne nicht die Schwierigkeiten, die in einem solchen Auftrag liegen, und habe es mehrfach selbst erfahren. Auch muß natürlich ein Preisrichter sich dem aussetzen, daß er von den beiden andern überstimmt wird, und daß er Kompromisse schließen muß, so war es auch bei den beiden ersten Preisaufgaben der Kantgesellschaft.
Was nun die beiden andern Preisrichter betrifft, so sind wir darin noch nicht definitiv | entschlossen; wir denken z. B. an Adickes[b], weil die Preisaufgabe eine Kant-Philologische Seite hat, wir denken auch an Volkelt, weil dieser dasselbe Thema vor 2 Jahren in Leipzig ausgeschrieben hat, aber nur für Studierende. Es ist natürlich für die Preisrichter selbst von großer Wichtigkeit, wer die andern Preisrichter sind, und wir können natürlich nicht die andern Preisrichter ernennen ohne Ihre Zustimmung, und umgekehrt. Auch müssen die Preisrichter sich in ihren Richtungen einigermaßen nahe stehen, und doch sollten sie nicht alle ein und derselben Richtung angehören; womöglich sollten alle 3 Preisrichter der Kantgesellschaft angehören; aus diesem Grunde haben wir noch nicht an Windelband gedacht[6], welcher sich uns noch nicht angeschlossen hat; aber andererseits würde er doch wohl auch für Sie in erster Linie in Betracht kommen.
Wollen Sie mir also gütigst Ihre Meinung hierüber offen mitteilen, sowie auch über die Formulierung und | Kommentierung[c] der Preisaufgabe; hierin kann natürlich noch allerlei geändert werden; und wir sind für Ratschläge sehr dankbar. Besonders die Aufzählung der zu berücksichtigen Richtungen der neueren Erkenntnis-Theorie kann noch geändert werden, ganz weglassen möchten wir diese Aufzählung nicht, aber sie kann anders formuliert und anders gruppiert werden.
Da ich bald von Halle wegreise[7], so möchte ich diese Angelegenheit noch vorher erledigen, zumal die Korrespondenz mit den einzelnen Preisrichtern viel Zeit kosten wird, bis Alles zusammen stimmt.
Was Volkelt betrifft, so teilte mir College Bauch soeben[d] mit, daß Sie einmal mit | ihm zusammen gestoßen[8] seien, und daß Volkelt dabei sehr energisch für die Metaphysik eingetreten sei; ich kann nicht beurteilen, welche Konsequenzen das eventuell[e] haben kann für Ihr Verhältnis zu Volkelt; sonst im übrigen ist er ja ein tüchtiger und angesehener Mann; er ist aber nicht absolut notwendig für die Preisaufgabe.[f]
Noch möchte ich bemerken, daß die Erläuterung zur Preisaufgabe beim Preisausschreiben mit abgedruckt werden soll, damit die eventuellen[g] Bewerber einen Leitfaden haben, darum ist es sehr wichtig, daß die Preisrichter vorher über diese Erläuterung sich äußern; natürlich soll sie die Bearbeiter nicht binden, sondern nur leiten; aber einer Erläuterung bedarf es notwendig, besonders der erste Teil der Erläuterung ist unerläßlich, weil selbst viele Fach-Kollegen nicht wissen, daß Kant den Wahrheitsbegriff an verschiedenen | Stellen seiner späteren Werke in ganz eigentümlicher Weise gebraucht hat.
Mit der Bitte um baldige Antwort ihr ergebenster
H. Vaihinger
Vielleicht würde der Titel der Preisaufgabe besser so lauten:
Der Wahrheitsbegriff bei Kant und bei den neueren Erkenntnistheoretikern.[h]
Kommentar zum Textbefund
c↑und | Kommentierung ] nach Seitenwechsel Beginn neuer Briefbogen mit Briefkopf wie mitgeteilt; am Kopf der S.: IIKommentar der Herausgeber
1↑Einführungsartikels zu der neuen Zeitschrift „Logos“ ] vgl. Rickert: Vom Begriff der Philosophie. In: Logos 1 (1910/1911), S. 1–34.2↑in guten Beziehungen ] wie aus Schreiben Wilhelm Windelbands an den Verleger Paul Siebeck hervorgeht, war die Zeitschrift Logos Gegenprojekt zu den etablierten philosophischen Zeitschriften in deren notorischer Tantenhaftigkeit, namentlich der Kant-Studien; vgl. Windelband an Siebeck vom 7.7.1894 und vom 24.7.1909 in: Jörn Bohr/Gerald Hartung (Hg.): Forschungsgrundlagen Wilhelm Windelband. Hamburg: Meiner 2020, S. 345–346 u. 363–364.3↑Beilage ] nicht überliefert, wahrscheinlich der Entwurf zum Text der Ausschreibung der Preisaufgabe, s. u.4↑Thema „Kant-Aristoteles“ ] vgl. die 1905 ausgeschriebene Preisaufgabe: Kants Begriff der Erkenntnis, verglichen mit dem des Aristoteles (Kant-Studien 10 (1905), S. 248). Als Preisrichter fungierten schließlich Max Heinze, Alois Riehl und Vaihinger.5↑Preisrichteramt zu übernehmen ] weder Rickert, noch Erich Adickes, noch Johannes Volkelt (vgl. Vaihinger an Volkelt vom 24.5.1910) waren für die 5. Preisaufgabe der Kantgesellschaft: Kants Begriff der Wahrheit und seine Bedeutung für die erkenntnistheoretischen Fragen der Gegenwart (vgl. Kant-Studien 15 (1910), S. 395–398) als Preisrichter tätig. Nominiert wurden schließlich Otto Liebmann, Richard Falckenberg u. Paul Menzer.6↑an Windelband gedacht ] vgl. Wilhelm Windelband an Rickert vom 1.6.1910 (https://doi.org/10.11588/diglit.31003 (3.9.2024)): Mit bestem Danke sende ich Ihnen Vaihingerʼs Brief [meint den vorliegenden vom 30.5.] nebst Anlage hierbei zurück. Wenn ich dabei kurzentschlossen die Bitte hinzufüge, mich als Preisrichter aus dem Spiel zu lassen, so gehört das mit zu den Entsagungen, für die ich mich jetzt in genere fest entschlossen habe. […] Aber ich möchte Sie ernstlich bitten, um der Sache willen Ihrerseits darum den Vaihingerschen Antrag nicht abzulehnen. Wenn irgendeiner so sind Sie der gegebene Sachverständige für dies Thema; das specifisch Kantphilologische wird Ihnen ja ein andrer Preisrichter, etwa eben Adickes, abnehmen; für das Sachliche aber sind Sie m. E. unentbehrlich. Wie sehr, – das geht schon aus der starken Verbesserungsbedürftigkeit des Kommentars zur Themastellung (worauf Sie selbst hinweisen) hervor. Das Thema scheint mir gut; viel besser als das Kant-Aristoteles-Thema, bei dem jeder Kundige den Erfolg voraussehen konnte. Aber die Gefahren des Erfolgs, die auch bei diesem Thema nicht ausgeschlossen sind, lassen sich nur vermeiden, wenn ein Mann wie Sie eine entscheidende Stimme im Preisrichteramt hat. Und Sie müssen auch dafür sorgen, dass nicht ein zweiter Psychologist oder Pragmatist zu Ad[ickes] hinzukäme; Volkelt schiene mir an sich nicht übel, – wenn Liebmann nicht zu gewinnen ist; ich weiss nicht, ob Bauchʼs Befürchtung über Ihre Kooperation mit V[olkelt] zutrifft. Jedenfalls möchte ich Ihnen ans Herz legen, die Sache nicht aus der Hand zu geben. Ein Passus bei Vaihinger macht mich darauf aufmerksam, dass ich, weil ich als Mitbegründer der Kant-Studien diese regelmässig bekomme, immer noch versäumt habe, der Kant-Gesellschaft als Mitglied beizutreten: ich werde das nächstens nachholen. Windelbands Eintritt in die Kantgesellschaft wird für den Zeitraum Januar–März 1911 vermerkt in: Kant-Studien 16 (1911), S. 129. Rickerts Name findet sich im Mitgliederverzeichnis für das Jahr 1910. In: Kant-Studien 16 (1911), S. 123.8↑einmal mit ihm zusammen gestoßen ] in literarischer Fehde; vgl. Rickert: Der Gegenstand der Erkenntnis. 2., verb. u. erw. Aufl. Tübingen: Mohr (Siebeck) 1904, S. 155–156, Anm. 1: Volkelt scheint anderer Ansicht. Er beklagt es in seiner Kritik dieser Schrift (Deutsche Literaturzeitung 1893, No. 11), dass das erkenntnistheoretische Bewusstsein bei mir nicht „in ehrlicher Wirklichkeit vorhanden“ sei, und behauptet, ich gerate damit „in das Reich der Spinnenweben und Seifenblasen“. Von dem merkwürdigen ethischen Nebenton dieser Worte will ich absehen und nur fragen: will Volkelt der Wissenschaft wirklich verbieten, Begriffe zu bilden, denen keine Wirklichkeit entspricht? Vor den Konsequenzen eines solchen Begriffsrealismus würde wohl jeder zurückweichen. Volkelt jedoch vermag mit dem erkenntnistheoretischen Subjekt „nur dann einen Sinn zu verbinden“, wenn es als ein „metaphysisches Wesen aufgefasst wird“. Wollte ich in Volkelts Sprache reden, so würde ich sagen, dass dieses metaphysische Wesen eine Seifenblase ist, die schon Kant in den Paralogismen zum Platzen gebracht hat. Aber ich tue dies nicht, denn Seifenblasen sind ja durchaus „ehrliche Wirklichkeiten“ und wie alle immanenten Objekte den „metaphysischen Wesen“ an Wirklichkeitsgehalt unendlich überlegen. Auch mein erkenntnistheoretisches Subjekt darf daher, gerade nach Volkelt, nicht zu den Spinnenweben und Seifenblasen gerechnet werden. Im übrigen denke ich, man liesse solche Ausdrücke in erkenntnistheoretischen Erörterungen lieber weg. Wirken werden sie doch nur auf den „gesunden Menschenverstand“, und für diesen, fürchte ich, sind alle erkenntnistheoretischen Untersuchungen „Spinnenweben und Seifenblasen“, die von Volkelt nicht weniger als die meinige.▲