Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Paul Natorp, Bühlertal, 11.8.1908, 8 S., hs., Briefkopf PROF. DR. H. VAIHINGER. | Halle a. S., d. … 190 | Reichardtstr. 15., Universitätsbibliothek Marburg, Ms. 831/1095
- Creator
- Recipient
- ParticipantsErich Adickes ; Friedrich Althoff ; Bruno Bauch ; Ludwig Busse ; Hermann Ebbbinghaus ; Eduard Crüger ; Ludwig Elster ; Ernst Laas ; Felix Krueger ; Gottlob Friedrich Lipps ; Heinrich Edwin Rickert ; Hermann Schwarz ; Edmund Husserl ; Heinrich Maier ; Paul Menzer ; John Stuart Mill ; Paul Natorp ; Paul Kannengiesser ; Heinrich Rickert ; Alois Riehl ; Theodor Lipps
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationUniversitätsbibliothek Marburg, Ms. 831/1095
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Vaihinger an Paul Natorp, Bühlertal, 11.8.1908, 8 S., hs., Briefkopf PROF. DR. H. VAIHINGER. | Halle a. S., d. … 190 | Reichardtstr. 15., Universitätsbibliothek Marburg, Ms. 831/1095
11.VIII.1908
z. Z. Bühlertal (Baden)
Kurhaus Wiedenfelsen.
Verehrter Herr College!
Verbindlichsten Dank für Ihre wertvollen und interessanten Mitteilungen[1], betr[effend] die Vorschläge für das Philos[ophische] Extraordinariat. Es ist schade, daß Prof. Schwarz nicht von Halle wegzubringen[2] ist; er würde, wie ich glaube, trotz allem den Posten nicht übel ausgefüllt haben. Crüger[3] kenne ich persönlich: das ist ein sehr tüchtiger Mann und hat wol noch mehr specifisch philos[ophisches] Interesse, als Lipps[4], den ich aber nicht kenne, dessen neuestes Buch aber zeigt, daß er allgemeine Fragen ernst und gründlich behandeln kann. Jedenfalls sind beide Männer sehr glücklich gewählt. |
Sie schreiben, daß Sie die Schriften von Dr Bauch[5] gütigst mir gleichzeitig mit Ihrem freundlichen Brief zugesandt haben. Diese Sammlung habe ich aber bis jetzt nicht bekommen. Nun habe ich meinen Aufenthalt mehrfach gewechselt, so daß meine Postverhältnisse etwas in Unordnung geraten sind. Nun aber bin ich hier auf circa 3 Wochen ständig, so daß ich allem würde nachkommen können. Nun, bitte, haben Sie die große Güte, mir umgehend zu schreiben als Postkarte, in welcher Form Sie die Bauch’schen Sachen abgesandt haben? Ob als Packet? oder als Drucksache? und im letzten Falle, ob in zwei getrennten Sammlungen (wie ich selbst es machte). Auf Grund Ihrer freundl[ichen] Angaben kann ich dann erst in Halle requiriren[6]. |
Ich wohne hier in einer Gegend, die Ihnen gut bekannt ist, aus Ihrer Straßburger Zeit: das Kurhaus Wiedenfelsen[7] ist auf dem Weg von Bühl nach dem Sand, ein Weg, den wir auch einmal gemeinschaftlich durchwandert haben, wie ich mich wol erinnere, mit Geschichten über Mill’s „permanent possibilities of sensation“. (Zusammen mit Kannengiesser[8])
Jetzt sind hier viele neue große Hotels, eine großartige Hotelcolonie. Ich habe diese Gegend gewählt, um von hier aus bequem (Anfang September) nach Heidelberg zum Congress[9] gelangen zu können.
Auch Straßburg habe ich mit meiner Frau besucht: auch hier ist vieles ganz verändert, ganz neue | Stadttheile sind entstanden, die Orangerie ist ungeheuer vergrößert und verschönert. Collegen konnte ich aber aus Mangel an Zeit diesmal keine besuchen. Ich bin seit 16 Jahren nicht mehr in Straßburg gewesen.
Im Schloß[10] (gegenüber dem Münster) wo früher die Vorlesungen waren, sind jetzt Kunstsammlungen, eine sehr gute Gemäldegallerie, sowie eine Sammlung von römischen Alterthümern mit vielen interessanten Stücken, besonders mit den berühmten[a] Resten von (Pompejanischen) Wandgemälden, gefunden am Rothen Haus auf dem Klobenplatz 4 Meter unter dem jetzigen Boden. |
Ihre[b] Erklärung gegen den Vorwärts[11] habe ich gelesen. Ich glaube nicht, daß Ihrer Nichtberufung[12] politische Motive zu Grunde lagen. Genau in derselben Lage wie Sie ist ja auch Adickes, welcher beidemal auch mit Ihnen zusammen vorgeschlagen war; aber so, daß sein Name vorangestellt war (Pari loco jedoch). Wäre also dieser berufen worden, so läge darin keine Herabsetzung Ihnen gegenüber; nach außen hin aber blieb der Schein eines politischen Motivs derselbe, da man ja in der Presse diese Thatsache nicht wußte, daß Adickes mit Ihnen zusammen vorgeschlagen war. Aber derselbe Fall | liegt auch bei Rickert vor. Denn R[ickert] war 1) als Nachfolger von Riehl[13], vorgeschlagen bei dessen Weggang zusammen mit Ebbinghaus (der berufen worden ist) und mit Husserl. 2) Rickert ist jetzt zuletzt wieder als Nachfolger Busses vorgeschlagen gewesen, zusammen mit H[einrich] Maier-Tübingen, sowie mit Menzer. Also auch Rickert ist in derselben Lage wie Sie: politische Gründe[c] liegen auch bei ihm nicht vor, denn er selbst ist nie politisch hervorgetreten, und daß er der Sohn seines Vaters[14] war, hat ihm nicht geschadet, sondern genützt: denn Althoff hat (wie ich von | Rickert selbst weiß) sich sehr viel für Rickert interessirt und ihn selbst aufgefordert, ihn in Berlin zu besuchen. Und jetzt unter Elster ist vollends kein Grund, in diesem Falle ein politisches Motiv anzunehmen, zumal ja jetzt auch der alte Rickert tot ist.
Natürlich ist es für Sie, sowie[d] für uns sehr schmerzlich, daß Sie nicht gefragt worden sind. Eine Beruhigung liegt aber darin, daß Sie doch gerne in Marburg sind und bleiben – aber freilich eine Anfrage hätte Ihnen ja in vieler Hinsicht sehr willkommen sein müssen – aber unsre Schicksale auf der academischen Lauf- oder Rennbahn sind ja so merkwürdige, | daß kein andrer Beruf etwas Ähnliches aufweist.
Indessen, ich sehe, ich bin zu breit geworden und schließe, beschämt daß ich 8 Seiten Ihnen zu lesen zumuthe.
Nochmals bitte ich um umgehende Beantwortung meiner Frage, betr[effend] die Bauch’schen Schriften, und wiederhole mein lebhaftes Bedauern, daß Sie dem Heidelberger Congress ferne bleiben[15].
Mit collegialem Gruß Ihr ganz ergebenster
H. Vaihinger
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Ihre wertvollen und interessanten Mitteilungen ] nicht überliefert; der Sache nach ging es um das im Juni 1908 neu geschaffene philosophische Extraordinariat an der Universität Marburg, auf das schließlich Hermann Schwarz berufen wurde (über die Querelen im Vorfeld vgl. Ulrich Sieg: Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus. Die Geschichte einer philosophischen Schulgemeinschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann 1994, S. 309–310).2↑nicht von Halle wegzubringen ] Hermann Schwarz wurde 1908 ao. Prof. in Marburg, 1910 o. Prof. in Greifswald (BEdPh).3↑Crüger ] nicht ermittelt. Da Eduard Crüger nicht gemeint sein kann (vgl. Eduard Grisebach an Vaihinger vom 2.3.1898), ist womöglich Felix Krueger (1874–1948; BEdPh) gemeint.4↑Lipps ] welcher der beiden Halbbrüder, Gotthold Lipps oder Theodor Lipps, gemeint ist, bleibt unklar (BEdPh). Wenn vorstehend Felix Krueger gemeint ist, dann am ehesten Theodor Lipps.7↑Kurhaus Wiedenfelsen ] seit 1893, unterhalb der Schwarzwaldhochstraße, vgl. https://ka.stadtwiki.net/Haus_Wiedenfelsen; https://www.leo-bw.de/web/guest/detail-gis/-/Detail/details/ORT/labw_ortslexikon/5687/Wiedenfelsen+-+Wohnplatz (22.6.2021).8↑Kannengiesser ] meint vermutlich Paul Kannengiesser, der 1875 sein Studium in Straßburg mit einer Dissertation abgeschlossen hat: Dogmatismus und Skepticismus. Eine Abhandlung über das methodologische Problem in der vorkantischen Philosophie. Elberfeld: Fassbender 1877 (Ernst Laas gewidmet). Lebensdaten nicht ermittelt, ausweislich der Titelblätter seiner späteren Veröffentlichungen (vgl. KVK) Professor am Protestantischen Gymnasium zu Straßburg.9↑nach Heidelberg zum Congress ] vgl. Bericht über den III. Internationalen Kongress für Philosophie zu Heidelberg 1. bis 5. September 1908. Hg. v. Th. Elsenhans. Heidelberg: C. Winter 1909.11↑Erklärung gegen den Vorwärts ] in der Zeitung Vorwärts, Nr. 172 vom 25.7.1908 war ein gegen die preußische Hochschulpolitik gerichteter Artikel mit dem Titel: Akademische Cliquenwirtschaft erschienen, in dem die Tatsache, dass Natorp nicht aus Marburg wegberufen wurde, obwohl er mehrfach an der Spitze auswärtiger Berufungslisten stand, mit dessen scheinbarer Nähe zur Sozialdemokratie in Verbindung gebracht wurde. Gegen diese Deutung seiner Karriere oder Nichtkarriere verwahrte sich Natorp in einem offenen Brief, der in der Frankfurter Zeitung am 28.7.1908 erschien, vgl. den Abdruck in Holzhey: Cohen und Natorp Bd. 2, S. 366–367.13↑Nachfolger von Riehl ] vgl. Vaihinger an Rickert vom 20.7. u. 12.8.1905 sowie Rickert an Vaihinger vom 9.5.1909.14↑Sohn seines Vaters ] des Politikers Heinrich Edwin Rickert (1833–1902), 1866 Mitbegründer der Nationalliberalen Partei, ab 1870 Angehöriger des preußischen Abgeordnetenhauses, ab 1874 des Reichstags. 1880 Gründer der Liberalen Vereinigung, 1884 der Deutsch-Freisinnigen Partei, 1893 der Freisinnigen Vereinigung. 1895 Vorsitzender des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus (NDB).▲