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- TitleVaihinger an Heinrich Rickert, Halle, 12.8.1905, 7 S., hs. (eigenh., mit eU), Briefkopf PROF. DR. H. VAIHINGER. | Halle a. S., d. … 190 | Reichardtstr. 15., Universitätsbibliothek Heidelberg, Heid. Hs. 2740 III A 208 7-8
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- Physical LocationUniversitätsbibliothek Heidelberg, Heid. Hs. 2740 III A 208 7-8
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Vaihinger an Heinrich Rickert, Halle, 12.8.1905, 7 S., hs. (eigenh., mit eU), Briefkopf PROF. DR. H. VAIHINGER. | Halle a. S., d. … 190 | Reichardtstr. 15., Universitätsbibliothek Heidelberg, Heid. Hs. 2740 III A 208 7-8
12.VIII.1905[a]
Verehrtester Herr College![b]
Die Verhandlungen der Regirung[1] mit Ebbinghaus[2] stoßen auf Schwierigkeiten[3] wegen eventueller Vergrößerung des psychophysischen Instituts, das wol zu Demonstrationszwecken, aber nicht recht zu Forschungszwecken geeignet ist, und auch nicht vergrößerbar ist.
So besteht ein schwacher Grund zur Annahme, daß eventuell der Ruf an Sie kommen könnte.
Sie haben es unserer Liste[4] wol sofort angesehen, daß sie ein Kompromißwerk ist zwischen den Freunden des Psycho|logismus (das sind hier die Philologen) und den Freunden des Kriticismus (das sind in diesem Fall Riehl und ich selbst).
Auch haben sich bei dem vorläufigen Besuch von Ebbinghaus hier zwischen ihm und mir Differenzen ergeben: trotz meines liebenswürdigsten Entgegenkommens hat er sogleich begonnen, über Kant, Kantstudien und Neukantianismus in der taktlosesten Weise loszuziehen: ich musste mich über ihn in Berlin beschweren[5], da mir eine solche unobjective, uncollegiale Intoleranz die Möglichkeit eines gedeihlichen Zusammenwirkens ganz auszuschließen scheint. Man muß doch bei der Verschiedenheit der Richtungen im persönlichen Verkehr das Gemeinsame heraussuchen, das Trennende ignoriren. |
Eine Schwierigkeit besteht noch in Bezug auf Sie: es ging[c] und geht das Gerücht, Sie seien Neurastheniker[6] und nicht im Stande, den Posten ganz auszufüllen in Bezug auf Vorlesungen und Examensthätigkeit. Andrerseits wird gesagt, daß das Übertreibung, ja Verleumdung sei; ich nehme an, daß Sie wol vorübergehend einmal neurasthenisch gewesen sind (wie das bei mir auch mehrfach der Fall war), aber für gewöhnlich doch allen Anforderungen des Amtes gewachsen sind.
Es wäre nun sehr zweckmäßig, wenn Sie mir darüber einfach schreiben würden, und zwar in einem Brief, den ich an Geh[eimen] Rath Elster[7] übersenden kann, und in welchem Sie eben diese Frage mir befriedigend beantworten; Ihre anderen eventuellen Mittheilungen erbitte ich mir auf besondrem Blatte für mich. |
Die Verhandlungen führt Herr Geh[eimer] Ober[d] Reg[ierungs-]Rath Elster, der aber zur Zeit an der Ostsee weilt; doch weiß ich seine Adresse und kann ihm Ihren Brief dann senden, habe ihm auch schon vorläufig in diesem Sinne Mittheilung gemacht[8].
Excellenz Althoff hat im Augenblick diese Verhandlungen nicht zu leiten, hat aber immer noch Einfluß auf sie; er ist jetzt in Schierke im Harz im Sanatorium Haug.[9] So viel ich höre, stehen Sie persönlich gut mit ihm. Vielleicht haben Sie so viel Fühlung mit ihm, daß Sie persönlich sich an ihn wenden können, eben zu demselben Zwecke, um jenes Gerücht zu widerlegen. Ich habe ihm selbst schon in diesem Sinn geschrieben[10], und Sie können sich direct auf mich berufen, daß ich Sie dazu aufgefordert habe, an ihn auch direct sich zu wenden in dieser Angelegenheit. |
Es handelt sich, wie ich wiederhole, nur um eine Möglichkeit, insofern eben die Verhandlungen mit Ebbinghaus noch nicht abgeschlossen sind. Aber es ist möglich, daß dieselben doch bald zum Abschluß kommen könnten, daher tut Eile noth, wenn noch etwas für Sie zu erreichen sein soll. Ich bitte mir daher umgehend den gewünschten Brief zu senden. –
Die Verhältnisse sind hier – abgesehen von der weniger schönen Gegend – in Halle so viel günstiger, als in Freiburg, daß ich annehmen darf, daß Sie einen Ruf wol annehmen würden. Zu eventuellen Auskünften bin ich gerne bereit; auch über rein praktische Fragen. |
Wenn auch Ihre Richtung und die meinige nicht identisch sind, so coincidiren sie doch in der Anerkennung Kants als des Ausgangspunktes. Ich persönlich bin äußerst tolerant und conciliant, kümmere mich weiter nicht um Dinge, die mich nicht ganz direct berühren, und lasse Jeden in seiner Weise selig oder unselig werden; und wünsche auch weiter nichts als innerhalb meiner Kreise ungestört zu leben. Ich bin mit Riehl trotz vieler Abweichungen der Richtung vortrefflich ausgekommen, weil wir Beide nach den obigen Regeln uns verhalten haben, so haben wir uns Beide dabei wohl gefühlt, und so darf ich wol auch annehmen, daß auch Sie denken. Wir haben gefunden, daß durch dieses tolerante | Verhalten Jeder seine Kräfte am besten entfalten kann, indem Jeder den Andren in seiner Weise gehen und gelten läßt. –
Mit collegialer Hochachtung Ihr ganz ergebenster
H. Vaihinger
Kommentar zum Textbefund
a↑12.VIII.1905 ] die Auflösung der Angabe von anderer Hd. mit Bleistift über der Datumszeile: [12.8.08] trifft nicht zu.Kommentar der Herausgeber
1↑Verhandlungen der Regirung ] zur Besetzung des frei gewordenen Ordinariats Riehls bzw. Busses, vgl. Vaihinger an Rickert vom 20.7.1908.2↑Ebbinghaus ] der Psychologe Hermann Ebbinghaus (1850–1909), seit 1905 o. Prof. an der Universität Halle-Wittenberg und Leiter des 1891 von Benno Erdmann begründeten Psycho-Physischen Apparates (https://www.catalogus-professorum-halensis.de/ebbinghaushermann.html; https://www.psych.uni-halle.de/geschichte/; 21.7.2021).3↑Schwierigkeiten ] die überwiegend Vaihinger selbst verursachte; vgl. Vaihinger an Gustaf Droysen vom 12.8. u. 21.8.1905 und an Ludwig Elster vom 27.8.1905.4↑unserer Liste ] vgl. den Bericht der Philosophischen Fakultät der Universität Halle an Universitätskurator Gottfried Meyer vom 28.7.1905, Abschrift (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. 4 Nr. 34 Bd. 22, Bl. 207–209, abgedruckt in: Hartwin Spenkuch: Preußische Universitätspolitik im Deutschen Kaiserreich. Dokumente zu Grundproblemen und ausgewählten Professorenberufungen in den Philosophischen Fakultäten zur Zeit Friedrich Althoffs (1897 bis 1907). Berlin/Boston: de Gruyter 2018 (Acta Borussica. Neue Folge 2. Reihe. Preußen als Kulturstaat. Hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften unter der Leitung v. Wolfgang Neugebauer. Abt. II: Der preußische Kulturstaat in der politischen und sozialen Wirklichkeit. Bd. 13), S. 528–530): Die ergebenst unterzeichnete Fakultät beehrt sich, zur Wiederbesetzung der erledigten ordentlichen Lehrkanzel der Philosophie die folgenden Vertreter des Faches in Vorschlag zu bringen: [1. Hermann Ebbinghaus; 2. Oswald Külpe und Heinrich Rickert; 3. Edmund Husserl.] […] Unter den jüngeren Fachvertretern ist […] Rickert wohl der namhafteste. Seine Schriften beziehen sich alle auf Fragen der reinen oder systematischen Philosophie. Hervorzuheben sind aus ihnen die 1904 in zweiter erweiterter Auflage erschienene Habilitationsschrift: „Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die Transzendentalphilosophie“ und das umfangreiche Werk: „Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften“ 1902. Auch die kleineren Arbeiten Rickerts sind von Bedeutung, so die Studie über Fichtes Atheismusstreit (in den Kantstudien abgedruckt), der Vortrag „Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft“ und der Artikel über psychologische Kausalität in den Abhandlungen Sigwart gewidmet 1900. Von diesen Veröffentlichungen hatte vor allem die logische Hauptschrift: „Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung“ bei Gegnern wie Anhängern einen starken Erfolg. Sie machte den Verfasser auch im Auslande bekannt und ist, wie immer man sich zu ihr stellen mag, für die Frage der Klassifikation der Wissenschaften und der Unterscheidung der historischen Disziplinen von den exakten von grundlegender Bedeutung. In der älteren Schrift: „Der Gegenstand der Erkenntnis“ wird das Programm einer auf den Begriff des Sollens gegründeten, Fichte nahestehenden Philosophie entworfen. Rickert hat bereits eine kleine Schar von Schülern um sich versammelt, die er durch die Eigenart seines Denkens und den persönlichen Ton, womit er seine Lehre vertritt, an sich fesselt. Ihm steht die Gabe einer formvollendeten und gewandten Rede zu Gebote. Doch soll nicht verschwiegen werden, daß diesen Vorzügen auch gewisse Mängel gegenüberstehen. Die starre Einseitigkeit, die Rickert treibt, überall den Maßstab des Wertes anzulegen, führt ihn selbst und noch mehr die, welche ihm folgen, zu einer Unterschätzung der objektiven Wissenschaft und ihrer Untersuchungsmethoden. – Berufen wurde zum 1.10.1905 Hermann Ebbinghaus.5↑über ihn in Berlin beschweren ] meint: bei der vorgesetzten Stelle, dem Preußischen Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten.6↑Neurastheniker ] Neurasthenie war der Name für ein depressives Erschöpfungssyndrom. Von Rickert berichten Zeitgenossen, er habe an Agoraphobie gelitten (vgl. z. B. Elisabeth Flitner: Ein Frauenstudium im Ersten Weltkrieg. In: Zeitschrift für Pädagogik 34 (1988), S. 153–169, hier: S. 163 (https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0111-pedocs-144735; https://www.pedocs.de/volltexte/2018/14473/pdf/Flitner_1988_Ein_Frauenstudium_im_Ersten_Weltkrieg.pdf (29.8.2024)).7↑Elster ] nachdem Friedrich Theodor Althoff 1897 im Preußischen Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten zum Ministerialdirektor der 1. Unterrichtsabteilung befördert worden war, fungierte als sein Nachfolger als Universitätsreferent der Nationalökonom (Prof. in Aachen, Königsberg und Breslau) Ludwig Elster (1856–1935), in dieser Position bis 1916 (NDB).8↑in diesem Sinne Mittheilung gemacht ] vgl. die Abschrift eines weiteren Schreibens an Elster in Vaihinger an Gustaf Droysen vom 21.8.1905.9↑Schierke im Harz im Sanatorium Haug. ] Kuranstalt, ganzjährig betrieben, vgl. z. B. Der Harz. Grosse Ausgabe. 21. Aufl. Leipzig u. Wien: Bibliographisches Institut 1912 (Meyers Reisebücher), S. 84.▲