Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Paul Natorp, Halle, 3.6.1903, 6 S., hs. (andere Hd., eU), Briefkopf Redaction der „Kantstudien“ | (Verlag von Reuther und Reichard, Berlin) | Prof. Dr. Vaihinger | Halle a. S. | – Priv.-Doc. Dr. Scheler | Jena. | HALLE a. S., den … | Reichardtstrasse 15., Universitätsbibliothek Marburg, Ms. 831/1073
- Creator
- Recipient
- Participants
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationUniversitätsbibliothek Marburg, Ms. 831/1073
- URN
- Social MediaShare
- Archive
- ▼
Vaihinger an Paul Natorp, Halle, 3.6.1903, 6 S., hs. (andere Hd., eU), Briefkopf Redaction der „Kantstudien“ | (Verlag von Reuther und Reichard, Berlin) | Prof. Dr. Vaihinger | Halle a. S. | – Priv.-Doc. Dr. Scheler | Jena.[a] | HALLE a. S., den … | Reichardtstrasse 15., Universitätsbibliothek Marburg, Ms. 831/1073
3. Juni 03
Verehrtester Herr Kollege!
Aus meinem letzten Vorschlag[1] ersehen Sie, wie ernstlich ich versuche, Ihre Mitwirkung für die K[ant-]St[udien] zu gewinnen. Trotzdem befürchtete ich eine zweite Absage Ihrerseits und habe Ihnen deshalb sofort telegraphirt[2], als sich mir ein Weg zu einer anderen Lösung eröffnete. Ich könnte es Ihnen ja auch in der Tat nicht verübeln, wenn Sie auch gegen meinen letzten Vorschlag schwere Bedenken haben sollten: ich verkenne die Schwierigkeiten, die in demselben für Sie liegen, durchaus nicht. Und auch ich selbst finde nachträglich in demselben Schwierigkeiten.
Einmal ist es der finanzielle Punkt: die mir von dem Ministerium in Aussicht gestellte Subvention[3] (ich bitte nochmals, diese Mitteilung streng diskret zu behandeln) ist mir als Herausgeber versprochen und zwar | wohl als Äquivalent für nicht gewährte persönliche Wünsche[4]. Wenn ich nun auf dem Titel der K[ant-]St[udien] nicht mehr als eigentlicher Herausgeber figurire, so ist es wohl möglich, dass die Subvention ausbleibt, zumal das Versprechen schlechterdings bloß ein mündliches ist.
Und sodann ein Zweites: Wie ich Ihnen schon in meinem Brief vom 12. Mai[5] schrieb, würde ich es ja begreiflich finden, wenn Sie in einiger Zeit die Redaktion an eine jüngere Kraft abgeben würden. Aber ein öfterer Wechsel der Geschäftsführung ist nicht wünschenswert; schon der jetzt so rasch eingetretene Wechsel[6] ist ja höchst fatal. So wäre es das Beste, wenn gleich von vorne herein unter Ihrer[b] geistigen Direktion eine jüngere Kraft die Redaktion führte, ohne dass Sie selbst Verantwortung und Arbeit hätten. Leider haben Sie zur Zeit keinen Privatdozenten.
Nun habe ich dieser Tage einen jungen Gelehrten kennengelernt, der Kantianer ist – wirklicher Kantianer, nicht bloß „Kantphilologe“ – und der sich in kurzer Zeit habilitiren will. Er ist in Straßburg, Freiburg, Heidelberg und Berlin ausge|bildet, hat in Freiburg unter Rickert promovirt[7], steht aber in seinen Anschauungen Ihnen näher als Rickert[8]. Er gefiel mir persönlich sehr gut, und ich schloss aus verschiedenen Symptomen bei mehreren Gesprächen, dass er sich auch für geschäftliche Dinge sehr eigne. Er macht den Eindruck eines energischen, fleißigen und in allen Kantfragen, sowie in der Litteratur sehr wohl orientirten Mannes.
Dies nun brachte mich auf den Gedanken, ob es nicht vielleicht möglich wäre, dass der Betr[effende], da er sich nun doch einmal bald habilitiren will, sich bei Ihnen habilitirt, die Geschäftsführung der K[ant-]St[udien] übernimmt und dabei naturgemäß unter Ihrer Direktive die Geschäfte leitet. Sie hätten also den Vorteil, die K[ant-]St[udien] sozusagen geistig vollständig leiten zu können, ohne doch irgendwie die Arbeit davon zu haben, und Ihr Name würde dann zu denen der 12 „Mitwirkenden“ aufgenommen.
An und für sich läge ja der Gedanke nahe, dass der Betr[effende] sich hier habilitirt. Allein wir haben hier nicht bloß schon 2 | Privatdozenten[9], sondern ein dritter hat sich auch schon angemeldet, und außerdem will der Betr[effende] lieber in Süddeutschland habilitiren, da die Familie seiner Braut in Freiburg i. B. lebt.
Der junge Mann heißt Dr. Bruno Bauch (nicht semitisch), ist geboren in Schlesien[c]. Seine Dissertation hat den Titel „Glückseligkeit und Persönlichkeit in der kritischen Ethik“, Stuttgart, Fr. Frommann, 1902, 101 S. Sie finden eine Selbstanzeige in den K[ant-]St[udien] VII, 469–471. Er hat außerdem eine große, circa 8 Druckbogen umfassende Abhandlung[10] verfasst, die er mir vor ein paar Tagen eingesandt hat für die K[ant-]St[udien], und die einen guten und gründlichen Eindruck macht. Mit seiner Habilitationsschrift ist er schon beschäftigt. Jene mir eingesandte Arbeit war nun die Veranlassung der persönlichen Berührung. Er kam gestern von Berlin, wo er gegenwärtig lebt, herüber: daher mein gestriges Telegramm[11].
Wie wäre es nun, wenn Sie diesem Gedanken näher treten würden? Vielleicht ist aber schon ein Anderer in Mar|burg, der[d] die Habilitation beabsichtigt. Da Sie aber schon früher zwei Privatdozenten[12] gehabt haben, würde wohl auch jetzt ein zweiter da noch Platz finden. Die Hauptsache bei der Übernahme der Geschäftsführung ist, dass der Betr[effende] die nötige geschäftliche Gewandtheit besitzt, und diese scheint mir gerade Dr. Bruno Bauch in hervorragender Weise zu haben.
Ich möchte Sie bitten, mir Ihre Meinung[13] über diese Frage mitzuteilen. Würden Sie die Sache plausibel finden, so würde ich den Betr[effenden] veranlassen, sich alsbald bei Ihnen persönlich vorzustellen. Dies wäre natürlich für Sie vollständig unverbindlich. Dadurch, dass Sie ihm erlauben, Sie in Marburg zu besuchen, würden Sie in keiner Hinsicht eine Verpflichtung eingehen. Gefällt er Ihnen nicht – und der persönliche Eindruck ist doch hierbei hauptsächlich maßgebend – | so würde damit diese Konjunktur[e] beseitigt sein und die Frage in ein anderes Stadium treten.
Mit kollegialem Gruß Ihr ergebenster
H. Vaihinger
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
6↑eingetretene Wechsel ] nach dem Ausscheiden Max Schelers, der erst 1902 in die Redaktion der Zeitschrift Kant-Studien eingetreten war.7↑unter Rickert promovirt ] vgl. Bruno Bauch: Glückseligkeit und Persönlichkeit in der kritischen Ethik: Stuttgart. Fr: Frommann 1902.8↑Ihnen näher als Rickert ] dieser Eindruck über Bruno Bauch hat auch in Marburg eine Zeit lang bestanden, vgl. Natorp an Albert Görland vom 1.1.1911: Was Sie sich von den Heidelbergern haben erzählen lassen ist nicht sehr ernst zu nehmen. Windelband ist immer ein hochmütiger Herr gewesen – woraufhin eigentlich? Aber die tüchtigeren jüngeren von der Schule sind durchaus geneigt mit uns zu gehn, nicht bloß Bauch, auch Hessen u. a. (Holzhey: Cohen und Natorp Bd. 2, S. 389).9↑schon … angemeldet ] 1903 waren in Halle Hermann Schwarz (habilitiert 1894) und Fritz Medicus (1901) Privatdozenten für Philosophie. Bruno Bauch habilitierte 1903 ebenfalls in Halle, bei Vaihinger (vgl. das Gutachten vom 17.10.1903).10↑Abhandlung ] Bauch hat in der Folgezeit mehrere Abhandlungen veröffentlicht, darunter die nahezu 9 Druckbogen (à 16 S.) umfassende: Luther und Kant. In: Kant-Studien 9 (1904), S. 351–492 (auch Thema der Habilitationsschrift in Halle).12↑Habilitation … Privatdozenten ] vgl. Natorp an Vaihinger vom 11.6.1903. In Marburg hatten bis 1903 habilitiert: 1894 Ludwig Busse (Kandidat von Julius Bergmann) und 1895 Eugen Kühnemann (Kandidat von Cohen und Natorp), BEdPh.▲