Bibliographic Metadata
- TitlePaul Natorp an Vaihinger, Marburg, 11.5.1903, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 1 b, Nr. 5
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 1 b, Nr. 5
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Paul Natorp an Vaihinger, Marburg, 11.5.1903, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 1 b, Nr. 5
Marburg 11. Mai 1903.[1]
Verehrter Herr Kollege!
Sie werden mein bisheriges Schweigen schon richtig so gedeutet haben, daß ich Ihren Vorschlag[2] in ernste Erwägung ziehe. Ein Eingehen der Kant-Studien[a] oder bloßes Fortvegetieren unter unsicherer Leitung wäre im allgemeinen Interesse zu bedauern. Sind Sie einmal unwiderruflich entschlossen, die Redaktion nicht weiterzuführen, so ist es ja eine Art Pflicht wenn möglich helfend einzutreten.[b] Und da hat der Gedanke etwas Verlockendes, der Zeitschrift, ohne Abstrich von ihrer bisherigen mehr philologischen Aufgabe, noch ein weiteres Interesse zuzufügen durch die Verbindung mit einer Schule, der das genaue Studium Kants nur als Voraussetzung gilt, um in Kraft seiner Methode nun weiter u. auch über seinen Buchstaben hinaus zu streben. Es kommt ermutigend hinzu, daß die Übernahme der Zeitschrift durch einen rührigen u. leistungsfähigen Verleger, nach dem was Sie schreiben, in wahrscheinlicher Aussicht stände.
Und so würde ich wohl unbedenklich einschlagen, | wenn ich über etwas mehr Jugend d. h. Unerfahrenheit und entsprechenden[c] Wagemut verfügte. Aber ich habe nun schon zwei Zeitschriften geleitet[3]. Die eine starb, als sie grade im besten Zuge war, an Verlegerschwierigkeiten; die andre war ein nicht ganz glücklicher Kompromiß, auf den ich mich vielleicht von Anfang an nicht hätte einlassen sollen. Nachdem ich diese zweite Redaktion eben erst niedergelegt habe, eine dritte auf mich zu nehmen, muß für mich, wie Sie gewiß am besten begreifen, ein schwerer Angang sein. Ich habe niedergelegt, nicht bloß weil das Archiv nicht das geworden war, was es hätte werden sollen; nicht bloß weil ich für meine eignen Arbeiten, denen mehrere sehr dringlich waren und sind, mir mehr Zeit u. Freiheit schaffen mußte; sondern auch aus dem Gefühl, daß es richtig sei Raum zu schaffen für den jüngern Nachwuchs. Ich dachte, man solle ruhig warten, bis ein entschiedenes Bedürfnis nach etwas neuem sich regt u. dann wohl auch[d] die geeignete Persönlichkeit sich von selber findet. |
So ist noch jetzt meine überwiegende Stimmung. Und diese würde für Ablehnung Ihres Vorschlags entscheiden.
Ist es indessen möglich die Frage noch eine gewisse Zeit in der Schwebe zu halten, so möchte ich Sie um die Erlaubnis bitten, bei einigen – älteren wie jüngeren– Freunden vertraulich anzufragen[4], was sie von der Sache denken. Sollte eine entschiedene Stimmung dafür sich herausstellen, so wäre es immerhin möglich, daß ich meine Bedenken schweigen hieße; namentlich dann, wenn ich bestimmt darauf rechnen könnte (was nicht ganz unmöglich ist), für die äußere Arbeitsleistung (Bibliographie, Sammlung von Notizen, gewöhnliche[e] Rezensionsanfragen, Verschicken der Bücher, Korrektur) an einen oder auch mehreren jüngeren Kräften verläßliche Hilfe zu finden. Denn diese ganze Last wieder auf mich zu nehmen wäre ich selbst dann außer Stande, wenn der Verleger sich entschließen würde, ein Redaktionshonorar zu zahlen. Doch das Wichtigste für jetzt wäre mir in | Erfahrung zu bringen, ob überhaupt Stimmung für die Sache vorhanden ist in den Kreisen, auf deren Mitarbeit ich an allererster Stelle zu rechnen haben würde. – Ich brauche kaum hinzuzufügen, daß es nicht entfernt meine Absicht wäre, die Kant-Studien[f] ausschließlich oder auch nur hauptsächlich zu einem Organ der „Marburger Schule“[5] zu machen. Sondern es sollte, ganz wie Sie es andeuten, in voller Objektivität jeder sich aussprechen dürfen, der an Kant u. den durch ihn gestellten Problemen ein ernstes Interesse nimmt u. etwas in[g] irgendeiner Richtung Förderliches dazu beiträgt. Daß aber die, welche ihre Arbeit vergleichsweise am nächsten an Kant anschließen u. an seinen Problemen weiterarbeiten, vorzugsweise dies Organ wählen würden, finden ja auch Sie sachlich berechtigt u. wird, denke ich, jeder so finden. – Was nun auch aus der Sache werde, jedenfalls habe ich Ihnen zu danken für das Zutrauen, welches Ihr Vorschlag beweist; u. jedenfalls würde an erster Stelle zu wünschen sein, daß Ihr Interesse u. Ihre Erfahrung der Zeitschrift auch in Zukunft zur Seite steht. Mit bestem Gruß Ihr ergebener
P. Natorp
(Den Brief von Scheler[6] lege ich bei)
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Marburg 11. Mai 1903. ] dazu ein Briefentwurf: Universitätsbibliothek Marburg, Ms. 831/1209 (1) vom 10.5.1903. Der Text ist bis auf die folgenden gestrichenen Passagen dem abgesendeten Schreiben vom 11.5.1903 vergleichbar. In einem ersten Entwurf heißt es etwa (Streichungen und Einfügungen werden im Folgenden nicht eigens ausgewiesen, Textschichten sind nicht sicher zu unterscheiden, die Lesung ist zum Teil unsicher): […] sondern auch aus dem Gefühl, daß es richtiger sei Raum zu schaffen für etwas Neues, das von der jüngeren Generation eigentlich ausgehen sollte. Und so würde ich zur Übernahme der Kantstudien mich höchstens (nur) dann entschließen können, wenn ich die sichere Überzeugung gewinnen könnte, daß dies der geignete Weg wäre/sei, um eine junge emporstrebende (aufstrebende) Gruppe – ich meine natürlich nicht bloß die „Marburger Schule“ – nat[ür]l[ich] auch die Eucken-Windelbandsche Richtung, aber doch auch Husserl u. wer sonst etwa v[on] d[er] österr[eichischen] Psychologenschule her sich Kantstudien nähert – zu gemeinsamer Arbeit oder doch in fruchtb[arer] Aus[einan]d[er]s[e]tzung zu vereinigen (sammeln). Darob bin ich nach allen gemachten Erfahrungen doch […] zur Skepsis geneigt. Im weitern – kaum leserlichen – Verlauf (das Folgende ist Interpretation der Hg.) drückt Natorp sein Bedauern darüber aus, dass Scheler, dessen Eintreten als junger Hoffnungsträger Natorp begrüßt hatte, bereits wieder aus der Redaktion ausscheidet. Bei Scheler als Redakteur der Zeitschrift Kant-Studien hätte womöglich eine Chance der Annäherung der mehr von Fichte ausgehenden Schule Euckens an den Kantianismus bestanden.3↑schon zwei Zeitschriften geleitet ] Philosophische Monatshefte (1888–1894) und Archiv für systematische Philosophie (1895–1901), vgl. Natorp an Vaihinger vom 11.12.1895.▲