Bibliographic Metadata
- TitleErich Adickes an Vaihinger, Kiel, 3.1.1901, 3 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 1 b, Nr. 4
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 1 b, Nr. 4
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Erich Adickes an Vaihinger, Kiel, 3.1.1901, 3 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 1 b, Nr. 4
Kiel, d. 3/1 01.
Hoch geehrter Herr Prof.!
Damit Sie ganz orientirt sind, theile ich Ihnen vertraulichst den Inhalt eines heute von Dilthey empfangenen Briefes mit. Ich hatte am 1/1 ein Gespräch mit dem Mitgliede der hiesigen Oberrealschulkommission, der mir sagte, dass die Stadt auf weitere Beurlaubung[1] nach Ostern nicht eingehen werde (auch nicht auf halbe). Ich schrieb das sofort an Dilthey, der mir neulich mitgeteilt hatte, die Rentkommission wolle beim Minister beantragen, mich von Ostern ab weiter zu beurlauben (er hatte auf diesen weitern Urlaub, der mir Zeit lassen würde zum Druck der Ausgabe, anderseits mich aber noch in Abhängigkeit belassen von ihm, offenbar als auf das in meine Pläne am Besten Passende gerechnet). Heute nun antwortete er mir, er habe an „Riehl geschrieben, obwohl des Erfolges unsicher, da wohl die | moderne Litteraturgeschichte dabei eine Rolle spiele“. Danach scheint dort[a] nur ein E[xtra]-O[rdinariat] beabsichtigt zu sein.[b] Und Dilthey stellt die Sache so dar als ob man in Halle Kühnemann wolle.
Doch ist mir nicht sicher, ob Dilthey mich Riehl wirklich empfohlen hat oder ob er nur ganz lau oder fast abratend[2] geschrieben hat, nur um nachher sagen zu können, er habe geschrieben.
Hier hörte ich früher, Riehl habe in der entscheidenden Fakultätssitzung hier (als Martius[3] primo loco vorgeschlagen wurde) beantragt oder beantragen wollen, mich hier zum E[xtra]-O[rdinarius] vorzuschlagen, sei aber nachher, als ein Gönner von mir etwas recht scharf für mich eintrat (ausfallend gegen die Andern), nicht mehr darauf zurückgekommen.
Ich habe Dilthey neulich nochmals fest erklärt, neben voller Schule und | Collegs (die ich auf keinen Fall aufgeben kann und werde) könne ich für die Ausgabe nicht thätig sein, auch nicht den Druck leiten: es werde da unb[edingt][c] eine Unterbrechung eintreten, die mich selbst am meisten schmerze, da ich darauf baue, die Sache los zu werden, u. die auch für die Ausgabe verhängnisvoll werden könne, da ich so, wie ich jetzt drin bin, nie wieder hineinkommen werde. Daraufhin dann sein Brief an Riehl u. sein Erbieten, auch an Falckenberg zu schreiben, was ich heute annahm.
Dankbar für Alles, was Sie mir mitteilen u. für mich thun können[4], u. in treuer Ergebenheit Ihr
Adickes.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑weitere Beurlaubung ] vgl. Adickes eigenen Bericht, mit Literaturangaben: Das Thema zu meiner Dissertation (Kants Systematik als systembildender Faktor) fand ich selbständig, als ich im Anschluß an Paulsens Seminar im Sommer und Herbst 1886 das ganze Kantische System durcharbeitete. Ich promovierte am 14. Mai 1887 und machte im November desselben Jahres mein philologisches Staatsexamen. Vom 1. April 1888 ab diente ich in Altona als Einjähriger, war von Ostern 1889 bis Ostern 1890 als Probekandidat an der Oberrealschule in Kiel tätig und wurde dort, nachdem ich ein halbes Jahr als Hilfslehrer an der Realschule in Barmen-Wupperfeld gewirkt hatte, Ostern 1891 als Oberlehrer fest angestellt. […] An sich unterrichtete ich gern, besonders in Sexta und Prima; doch wurde nach meiner Habilitation an der Kieler Universität (Herbst 1895) die Sehnsucht nach rein akademischer und wissenschaftlicher Tätigkeit immer stärker. Bis 1902 blieb ich an der Schule, freilich im Interesse der Kantausgabe fast drei Jahre ganz, 2½ Jahre halb beurlaubt. 1898 wurde ich unbesoldeter Extraordinarius, Herbst 1902 folgte ich einem Ruf als Ordinarius an die neugegründete Universität Münster, Herbst 1904 einem solchen nach Tübingen als Nachfolger Chr. Sigwarts. […] Im Frühjahr 1896 verpachtete ich mich der Berliner Akademie der Wissenschaften gegenüber zu der Herausgabe von Kants handschriftlichem Nachlaß, ohne auch nur von fern zu ahnen, welche Arbeit ich damit auf mich lud. Sie band meine Kraft nicht nur für Jahre, sondern für Jahrzehnte. Von Kant hatte ich mich eigentlich verabschieden wollen. Meine Studien und Pläne galten erkenntnistheoretischen, metaphysischen, wertpsychologischen, ethischen Problemen. Aber man versprach mir zweijährigen Urlaub von der Schule und stellte die völlige Befreiung von ihr nach Vollendung der Ausgabe in Aussicht. So unterschrieb ich den Vertrag und verurteilte mich damit selbst zu einer Zwangsarbeit, die meiner Forschertätigkeit eine ganz andere Richtung gab, als ursprünglich beabsichtigt war. […] Kants handschriftlicher Nachlaß, hrsg. in der Kant-Ausgabe der Berliner Akademie der Wissenschaften. Bd. I. 1911. LXII, 637 S. Bd. II. 1913. XIV, 982 S. Bd. III. 1914. XVI, 875 S. (Adickes in: Raymund Schmidt (Hg.): Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen Bd. 2. Leipzig: Meiner 1921, S. 25–26, 27 u. 30).2↑ganz lau oder fast abratend ] Adickes, der im Februar 1896 die eigentlich Vaihinger zugedachten Editionsarbeiten an Kants Inedita als Lückenbüßer übernommen hatte, hatte damit von vornherein und zu Lasten einer eigenen Karriere eine problematische Stellung innerhalb der Organisation der Akademie-Ausgabe der Werke Kants, vgl. Dilthey an Vaihinger vom 25.9. u. 15.11.1895 sowie Adickes an Vaihinger vom 6.1.1902.3↑Martius ] Götz Martius (1853–1927), seit 1898 o. Prof. an der Universität Kiel, Gründer des psychologischen Seminars. – Alois Riehl lehrte 1896–1898 in Kiel, danach bis 1905 in Halle (BEdPh).4↑für mich thun können ] vgl. Hermann Siebeck an Vaihinger vom 4.4.1901 sowie Friedrich Paulsen an Vaihinger vom 12.6.1901▲