Bibliographic Metadata
- TitleMax Scheler an Vaihinger, Jena, 24.11.1900, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 5 d, Nr. 2
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 5 d, Nr. 2
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Max Scheler an Vaihinger, Jena, 24.11.1900, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 5 d, Nr. 2
Jena, 24. Nov[ember] 1900.
Sehr verehrter Herr Professor!
Was müssen Sie von mir denken, hochverehrter Herr, daß ich erst heute Ihre so liebenswürdigen u. mir so dankenswerten Zeilen[1] beantworte! Der Grund für dies Schweigen war freilich ein solcher, daß ich auf Ihre gütige Nachsicht hoffen zu dürfen glaube. Mein kleiner Junge[2] war nämlich so krank, daß wir ihn zu verlieren fürchteten und es war mir in dieser Zeit nicht möglich, Anderes als meine pflichtmäßigen Arbeiten zu erledigen.
Meine Habilitationsarbeit[3] wird Ihnen Dürr zugeschickt haben. Eine etwaige Selbstanzeige[4] der Arbeit[a] kann, wie ich nach Ihren Worten glaube schließen zu müssen, in das nächsterscheinende Heft nicht mehr auf|genommen werden. Ich lege eine solche bei und bitte im nächstfolgenden Heft – wenn es angeht – von ihr Gebrauch zu machen. Sollte etwa in diesem Hefte noch Raum für eine Recension sein, so kann die Anzeige ja vielleicht beiseite gelassen werden[b]. Selbstverständlich überlasse ich dies ganz Ihrer Disposition. Was die Wahl des Recensenten betrifft, so würde mir eine Person aus jenem Kreise, der die Windelbandische Kantauffassung (nur als diagnostisches Merkmal gemeint) vertritt, am liebsten sein. Nicht etwa darum, weil die in dem Schriftchen niedergelegten Gedanken mit den Ansichten jenes Kreises übereinstimmten: dies ist keineswegs der Fall; nur deswegen, weil ich hier die objektivste Würdigung zu finden glaube. Windelband selbst wird sich wohl kaum dazu herbeilassen? Sollten Sie, verehrter Herr, vielleicht mit Hensel in Beziehung[5] stehen[c], so wäre mir eine Recension von seiner Hand erwünscht. Weniger angenehm wäre mir – verzeihen Sie diese Offen|heit – ein spezifisch neukantischer Recensent (Cohen, Natorp etc).
Mein Aufsatz[6] über analyt[ische] u[nd] synthet[ische] Urtheile[d], an den Sie sich gütigst erinnerten, soll in den Weihnachtsferien druckfertig werden. Bei Wiederbeginn der Universität soll er Ihnen zu etwaiger Berücksichtigung zugehen.
Im[e] zweiten Teil des laufenden Semesters gedenke ich einen Aufsatz[7] fertig zu stellen, dessen Material bereits gesammelt ist: Kant und der Sozialismus[f]. Seine Tendenz richtet sich gegen jene gegenwärtige Bewegung, die Kant mit mehr oder weniger Vehemenz zum Socialisten machen will (Cohen, Vorländer[8], Woltmann etc). Es mag ja sein, daß Kant dem Socialismus auf „transzendentallogische“ Weise „vorangegangen ist“[9]. Historisch gesehen erscheint mir die These als eine der merkwürdigsten Construktionen, die wir in den letzten Jahren erlebt haben. Sollte Ihnen, sehr verehrter Herr, mein Plan sympathisch sein, so würde es mir eine Ehre sein, die Ar|beit in Ihrem Organe veröffentlichen zu dürfen; sollte auch eine längere Zeit bis zur Veröffentlichung vergehen.
Für Ihre freund[lichen] Glückwünsche zum Antritt meiner Vorlesungen sage ich Ihnen, geehrter Herr Professor, meinen herzlichsten Dank. Ich habe meine Vorlesung (griech[ische] Phil[osophie]), Übungen (Lectüre der Prolegomena z[u] e[iner] j[eden] k[ünftigen] M[etaphysik]) u. Repetitorium wohl zustande gebracht und für den Anfang auch recht guten Besuch. In den Übungen wird zu unser aller Belehrung Ihr vortrefflicher Commentar[10] ausgibigst[g] herangezogen.
Indem ich nochmals um gütige Entschuldigung meines langen Schweigens bitte verbleibe ich ehrerbietigst Ihr ergebenster
M. Scheler.
Kommentar zum Textbefund
b↑kann die Anzeige ja vielleicht beiseite gelassen werden ] am linken Rd. mit Bleistiftkreuz angestrichenKommentar der Herausgeber
2↑Mein kleiner Junge ] nicht ermittelt. Wolfgang Heinrich Scheler (1905–1941) war noch nicht geboren (NDB).4↑Selbstanzeige ] erschienen in Kant-Studien 5 (1901), S. 481 (3. Heft des ersten Bandes des Doppeljahrganges 5/6 von 1901). Eine Besprechung erschien nicht.5↑mit Hensel in Beziehung ] zwischen Vaihinger und Paul Hensel (1860–1930, 1888 in Straßburg bei Wilhelm Windelband habilitiert, seit 1898 ao. Prof. in Heidelberg, ab 1902 o. Prof. in Erlangen, BEdPh) ist keine Korrespondenz ermittelt.7↑einen Aufsatz ] Scheler hat über dieses Thema nicht in der Zeitschrift Kant-Studien veröffentlicht. Vgl. Franz Staudinger: Der Streit um das Ding an sich und seine Erneuerung im sozialistischen Lager. In: Kant-Studien 4 ([1899]/1900), S. 167–189; Karl Vorländer: Kant und der Sozialismus. In: Kant-Studien 4 ([1899]/1900), S. 361–412; ders.: Die neukantische Bewegung im Sozialismus. In: Kant-Studien 7 (1902), S. 23–84.8↑Vorländer ] vgl. Otto Hendel Verlag: Bibliothek der Gesamt-Litteratur des In- und Auslandes. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Nr. 227 vom 29.9.1899, S. 7046: Soeben gelangten zur Versendung: Nr. 1266–1277. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Herausgegeben von Dr. Karl Vorländer. Mit Einleitung und ausführlichem Sachregister. Mit einem Bilde Immanuel Kants. Der Herausgeber, als Begabtester der Schüler Vaihingers, des hervorragenden Kant-Interpreten, uns von diesem selbst bezeichnet, muß als der Berufene gelten, eine neue wertvolle Ausgabe obigen Werkes zu schaffen […].▲