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- TitleHeinrich Rickert an Vaihinger, Freiburg (Breisgau), 14.1.1900, 3 S., hs., Briefkopf Prof. Heinrich Rickert. | Universität Freiburg im Br. | den … ten … 189 …, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 3 l, Nr. 8
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 3 l, Nr. 8
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Heinrich Rickert an Vaihinger, Freiburg (Breisgau), 14.1.1900, 3 S., hs., Briefkopf Prof. Heinrich Rickert. | Universität Freiburg im Br. | den … ten … 189 …, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 3 l, Nr. 8
den 14ten Januar 1900
Verehrter Herr Kollege!
Entschuldigen Sie, daß ich Ihren Brief[1] erst heute beantworte. Die Verzögerung ist durch einen Zufall herbeigeführt, an dem ich keine Schuld trage. Ich hatte sofort an Windelband geschrieben, aber mein Brief blieb mehrere Tage in der Tasche der Person, die ihn in den Postkasten stecken sollte, und so erhielt ich erst heute Antwort aus Straßburg.
Leider ist Windelband nicht geneigt, den von Ihnen gewünschten Festgruß zu schreiben, und seine Gründe sind dieselben, die auch mich veranlassen, eine Aufgabe nicht zu übernehmen, die mir wegen der Person des zu Feiernden sonst sehr sympathisch wäre. Das Thema: „Sigwart und Kant“ ist gewiß der Bearbeitung werth, aber gerade zu einem Festgruß scheint es sich mir nicht zu eignen oder wenigstens für mich nicht zu eignen, da ich bei der größten Bewunderung für Sigwarts Logik glaube, daß dieses Werk für die Entwicklung der Philoso|phie noch mehr bedeuten würde, wenn es in einigen Theilen mehr Rücksicht auf die durch Kant geschaffenen Probleme nehme, als er dies thut. Es kommt noch hinzu, daß Windelband mir schreibt[2], nach seiner Kenntniß von Sigwart, ja nach bestimmten Erfahrungen sei er der Überzeugung, daß eine Nebeneinanderstellung mit Kant Sigwart unbehaglich und weit entfernt sein würde, ihm Freude zu machen. Ich theile Ihnen dies – natürlich vertraulich – mit, weil ich glaube, daß dieser Umstand bei einer eventuell weiteren Erwägung der Angelegenheit[3] für Sie auch von Bedeutung sein wird, denn auch Sie waren ja gewiß in erster Linie von der Absicht geleitet, Sigwart eine Freude zu machen.
Für die Correkturbogen des Paulsenschen Aufsatzes und das Recensionsverzeichnis[4] meinen verbindlichsten Dank. Daß mich Paulsens angebliche Aufklärung meiner „Missverständnisse“[5][a] zu einer Antwort reizt, kann ich nicht behaupten. Ich könnte seiner neuen Darstellung des Willensprimates gegenüber nur das wiederholen, was ich der alten gegenüber gesagt habe, oder höchstens hinzufügen, daß sie sich zum Theil (z. B. S. 441 f.) erheblich der Fichteschen Ansicht nähert, z[um] Th[eil] jedoch auch an den alten, damit ganz unvereinbaren Behauptungen festhält. Zu derartiger Polemik aber habe ich keine Neigung, und ich nehme an, daß auch Ihnen damit wenig gedient sein würde.
Anders ist es mit einem Angriff auf das Ganze der Paulsenschen Kant-Auffassung. Ich halte es geradezu für eine unabweisbare Pflicht der Wissenschaft, dieses total verfehlte, ja mehr als verfehlte Kant-Buch so | gründlich zu zerpflücken, daß für einen Urteilsfähigen von seinen Grundlagen auch nicht das geringste mehr übrig bleibt, und wenn ich mich nicht gleich an diese Aufgabe gemacht habe, so geschah das nur, weil ich hoffte, daß ein Mann von größerem Wissen und vor allem auch von größerer Autorität (denn so sehr viel zu wissen braucht man dazu eigentlich nicht) diese Arbeit tun würde. Im Einzelnen ist ja bereits Manches vortreffliche gesagt, aber einen durchschlagenden Angriff auf das Ganze vermisse ich noch immer, und ich würde alles dazu thun, daß er erfolgt. Wenn ich trotzdem mir eine Entscheidung über meinen Entschluß noch vorbehalte, so thue ich das z[um] Th[eil], weil es mir jetzt im Semester ganz unmöglich ist, an die Ausführung zu gehen, z[um] Th[eil] aber auch, weil ich – dies unter uns – zuvor den Versuch machen möchte, Windelband zu einer Äußerung über Paulsens Kant[6] zu bewegen. Die würde gründlich ausfallen und eine ganz andere Autorität besitzen als eine von mir ausgehende Schrift. Einen solchen Versuch aber kann ich nicht schriftlich machen; dazu müßte ich nach Straßburg fahren, und in den nächsten Wochen habe ich keine Zeit.
Verzeihen Sie, daß dieser lange Brief ein so negatives Ergebnis enthält, nehmen Sie meinen besten Dank für die mir sehr ehrenvolle Aufforderung und seien Sie versichert der größten Hochachtung
Ihres sehr ergebenen
Heinrich Rickert.
Ihre Fichte-Schriften[7] schicke Ihnen ich in den nächsten Tagen – endlich! – zurück.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑Windelband mir schreibt ] vgl. Windelband an Rickert vom 13.1.1900, abgedruckt in: Bohr/Hartung: Forschungsgrundlagen Wilhelm Windelband. Hamburg: Meiner 2020, S. 305–306. Windelband teilte übrigens Rickerts Ablehnung Paulsens.3↑weiteren Erwägung der Angelegenheit ] in Kant-Studien 5 (1901) erschien schließlich von Mscislaw Wartenberg der zweiteilige Aufsatz: Sigwarts Theorie der Kausalität im Verhältnis zur Kantischen. Eine Festgabe zum 28. März 1900, S. 1–20 u. 182–206.5↑„Missverständnisse“ ] vgl. Paulsen: Kants Verhältnis zur Metaphysik. In: Kant-Studien 4 ([1899]/1900), S. 413–447, hier S. 435–436: Der Darstellung des Verhältnisses Kants zur Metaphysik lasse ich nun noch ein paar Bemerkungen über Metaphysik überhaupt, oder also über meine Ansicht über Metaphysik und ihr Verhältnis zum Wissen und zum Glauben folgen, besonders auch, um sie gegen Missverständnisse zu schützen, wie sie z. B. in Rickerts Aufsatz über Fichtes Atheismusstreit im vorhergehenden Heft dieser Studien hervorgetreten sind.6↑Äußerung über Paulsens Kant ] Windelband hat sich nicht öffentlich in die Debatte eingemischt, weil sein „Platon“ in derselben Verlagsreihe wie Paulsens „Kant“ erschien, vgl. Windelband an Ludwig Friedländer vom 24.12.1899, abgedruckt in: Bohr/Hartung: Forschungsgrundlagen Wilhelm Windelband. Hamburg: Meiner 2020, S. 304.7↑Ihre Fichte-Schriften ] vgl. Rickert an Vaihinger vom 30.7.1899 (sowie Vaihinger an Fritz Mauthner vom 6.9.1920).▲