Bibliographic Metadata
- TitleHeinrich Rickert an Vaihinger, Freiburg (Breisgau), 12.11.1899, 3 S., hs., Briefkopf Prof. Heinrich Rickert. | Universität Freiburg im Br. | den … ten … 189 …, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 3 l, Nr. 6
- Creator
- Recipient
- Participants
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 3 l, Nr. 6
- URN
- Social MediaShare
- Archive
- ▼
Heinrich Rickert an Vaihinger, Freiburg (Breisgau), 12.11.1899, 3 S., hs., Briefkopf Prof. Heinrich Rickert. | Universität Freiburg im Br. | den … ten … 189 …, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 3 l, Nr. 6
den 12ten November 1899
Sehr geehrter Herr Kollege!
Nehmen Sie meinen besten Dank für Ihren freundlichen Brief und die liebenswürdige Zusendung der beiden Kantbilder[1]. Das Senewaldtsche ist mir das sympathischste von allen, die ich kenne, wenn ich auch in Bezug auf Ähnlichkeit etwas sceptisch bin, denn die Schädelbildung, besonders der Gesichtswinkel weicht doch allzu sehr von allen anderen Darstellungen ab. Trotzdem aber freue ich mich sehr, einen besondern Abzug zu besitzen, und ich will ihn mir an die Wand hängen, um das bezaubernd liebenswürdige Gesicht alle Tage zu sehen. Das andere Bild ist weniger anmuthig, aber auch sehr interessant.
Ihrem Wunsche[2] nach[a] einer Abhandlung über Paulsens | Kant[3] stehe ich im Princip durchaus nicht abgeneigt gegenüber. „Die Sache wills“[4]. Aber die Entscheidung muß ich noch etwas vertagen. Paulsen hat mir nämlich geschrieben, daß er mir antworten wolle und zwar eventuell in den Kantstudien[5]. Ich setze als selbstverständlich voraus, daß Sie diese Antwort auf jeden Fall aufnehmen werden, auch wenn sie[b], wie ich nach dem etwas gereizten Ton, in dem Paulsen mir schreibt, scharf ausfallen sollte.[c] Jedenfalls bin ich gar nicht empfindlich, sondern ich werde mich über jeden sachlichen Angriff freuen. Ich bitte Sie von dieser Mittheilung keinen Gebrauch zu machen, sondern wir wollen warten, bis Paulsens Antwort bei Ihnen eintrifft, und dann werde ich mich entscheiden, ob ich gründlich gegen seine Kantauffassung Stellung nehme, die ich in dem Atheismus-Artikel ja nur streifen konnte. Wenn ich es thue, werde ich Sie wohl um einen Raum von 2–3 Bogen bitten, denn ich möchte dann auch auf das eingehen, was bei Paulsen fehlt, vor allem auf[d] die Kritik der Urteilskraft. Vorher muß ich jedoch Ihren in Aussicht gestellten Beitrag zur Sigwart-Festschrift[6] kennen und mir auch die Artikel verschaffen, die Cohen in der „Nation“[7] veröffentlicht haben soll. Es könnte doch sein, daß ich dann finde, „daß mir zu tun | fast nichts mehr übrig bleibt“[8]. Bisher sind mir nur zwei nennenswerte Kritiken des Paulsenschen Buches zu Gesicht gekommen: die von Heman in der Zeitschrift für Philos[ophie und philosophische Kritik] u. die von Goldschmidt im Archiv. Die Philosophical Review[9] bekomme ich hier leider nicht zu sehen. Sollte ich etwas übersehen haben, so wäre ich für einen freundlichen Hinweis[10] darauf sehr dankbar.[e]
Ihre Fichte-Schriften schicke ich Ihnen in einiger Zeit zurück. Ich habe nun auf eine neue Bitte von Falckenberg den Fichte für die Frommann[f]’schen Klassiker[11] übernommen und will mir mit Rücksicht darauf noch einige Ihrer Schriften durchsehen.
Mit bestem Gruß Ihr sehr ergebener
Heinrich Rickert.[g]
Kommentar zum Textbefund
g↑Rickert. ] auf der Rückseite von Vaihingers Hd.: Liste gesandt | Adickes | Romundt | Cohen | Schöndorffer | Goldschmidt | Sänger | Hemann | Vaihinger | Neumann | PaulsenKommentar der Herausgeber
4↑„Die Sache wills“ ] Anspielung auf Shakespeare: Othello, 5. Aufzug, 2. Szene (Othello spricht; nach der Übersetzung von Wolf Graf Baudissin): Die Sache will’s, die Sache will’s, mein Herz!5↑eventuell in den Kantstudien ] vgl. Paulsen: Kants Verhältnis zur Metaphysik. In: Kant-Studien 4 ([1899]/1900), S. 413–447, hier S. 413–415: Meine Darstellung der Kantischen Philosophie (im 7. Bd. von Frommanns Klassikern der Philosophie) hat eine Diskussion über Kants Verhältnis zur Metaphysik veranlasst, zu der auch ich mich einigermassen verpflichtet erachte, das Wort zu ergreifen. […] Ich habe behauptet und behaupte noch, dass Kant das Recht einer idealistischen Metaphysik im Gegensatz, wie zu einer rein physikalischen Weltanschauung, so auch zu skeptisch-agnostizistischer Enthaltsamkeit begründen wollte, freilich nicht mit den alten Mitteln der Demonstration aus reinen Begriffen, sondern durch den Nachweis, dass von dem Wesen der Vernunft, der theoretischen wie der praktischen Vernunft, eine derartige Voraussetzung über die Wirklichkeit unabtrennbar sei. Gegen diese meine Darstellung sind von mehr als einer Seite Bedenken erhoben worden, so von Vaihinger und Heman. Vaihinger (in einer Anzeige im achten Band der Philosophical Review) erkennt zwar an, dass Kants eigentliche Anschauung die von mir bezeichnete sei, dass er sie aber nur wie durch einen Schleier sehen lasse, während ich sie in das helle Tageslicht stelle und dadurch doch die Gedankenbildung verändere: der Schleier, den Kant vor die intelligible Welt ziehe, sei ein notwendiges Element des kritischen Systems. Ebenso hat Heman (in einer Besprechung in der Zeitschrift für Philosophie und philos. Kritik. Bd. 114), obwohl im übrigen zustimmend, doch wegen einer Zurückstellung der erkenntnistheoretischen Kritik gegen die Metaphysik Bedenken erhoben und betont: von einer Erkenntnis des mundus intelligibilis könne bei Kant schlechterdings nicht die Rede sein. Auch Sänger, Romundt, Rickert haben gegen diesen Punkt meiner Darstellung Bedenken geäussert. Folgt Anm.: Wenn ich hier eine Rezension erwähne, die Herr Professor H. Cohen in der Nation veröffentlicht hat, so geschieht es nur, um ihm die erwartete Empfangsbestätigung zu geben; ich kann ihm also die Genugthuung verschaffen, zu erfahren, dass ich sie richtig erhalten und auch gelesen habe. Die weitere Genugthuung, ihm zu bestätigen, dass sie mich verdrossen hat, bedauere ich ihm nicht geben zu können. Ich habe sie nur mit einem Gefühl der Beschämung gelesen, der Beschämung nämlich, die ich als deutscher Universitätslehrer darüber empfunden habe. Meine Meinung von dem deutschen Rezensionswesen ist schon längst keine grosse; diese Rezension hat mir doch noch eine Überraschung bereitet. Auf Einzelnes einzugehen – es handelt sich um zwölf Spalten höhnischer Glossen, womit der Verfasser mein Buch von dem vorgehefteten Bildnis an bis zu dem Punkt am Schluss begleitet – wird er mir erlassen. Ich hab nun einmal an einem Verkehr auf dem Fuss gegenseitiger, nun, sagen wir Missachtung keine Freude. Und ein Bedürfnis zur Gemütserleichterung ist bei mir auch nicht vorhanden. – Auch auf die in herablassendem Ton vorgetragenen Belehrungen des Herrn Dr. Goldschmidt im Archiv für System. Philos. finde ich keinen Grund hier einzugehen. Während der Korrektur geht mir noch eine Rezension von Otto Schöndörffer in der Altpreussischen Monatsschrift zu, die ebenfalls an meiner Behandlung der Metaphysik Anstoss nimmt und mich belehrt, dass wir nach Kant die Dinge nicht erkennen können, wie sie an sich sind. Sie weist mich dann weiter darüber zurecht, dass ich von Kant nicht mit der schuldigen Bewunderung und Begeisterung rede, als das Schlimmste mir anrechnend, dass ich seine Moral als die „Moral der kleinen Leute“ bezeichnet habe. Ich kann nicht finden, dass ein Mann, der sich so wenig auf den Ton einer Darstellung versteht, dass er aus dieser Bezeichnung in dem dort gegebenen Zusammenhang einen Tadel herausliest – es handelte sich darum, Kants Moral als den Gegensatz zu einer „Herrenmoral“ zu charakterisieren, als die Moral von ehrlichen und rechtschaffenen, „kleinen Leuten“, wie es seine Eltern waren, – einem solchen Mann kann ich nicht die Kompetenz zugestehen, mir Belehrungen über den Ton zu erteilen, in dem ich von Kant zu sprechen habe. – Er schliesst seine Rezension mit der Äusserung, dass er das Buch „lieber nicht geschrieben wünschte.“ Mich aber freut’s nun erst recht, dass ich, nach langem Zögern, das Buch zu sehreiben doch übernommen habe. Von der Notwendigkeit, Kant nicht den orthodoxen Kantianern allein zu überlassen, haben diese Proben ihrer kritischen Leistungen mich aufs Neue überzeugt. Vgl. Paulsen an Vaihinger vom 6.11.1899.6↑Beitrag zur Sigwart-Festschrift ] vgl. Vaihinger: Kant – ein Metaphysiker? In: Philosophische Abhandlungen. Christoph Sigwart zu seinem siebzigsten Geburtstage 28. März 1900 gewidmet. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1900, S. 135–158.7↑Cohen in der „Nation“ ] vgl. Hermann Cohen: Ein Buch über Kant. In: Die Nation 16 (1898/1899), S. 609–613 u. 623–626.8↑„daß … bleibt“ ] Anspielung auf Goethe, Faust I, Z. 3519–3520 (Margarete spricht): Ich habe schon so viel für dich getan, / Daß mir zu tun fast nichts mehr übrig bleibt.9↑Philosophical Review ] vgl. die dortige Rezension Vaihingers über Paulsens Buch: The Philosophical Review 8 (1899), Nr. 3 von Mai, S. 300–305.10↑freundlichen Hinweis ] vgl. die von Vaihinger auf der Rückseite des Schreibens von Rickert angemerkte Liste der Rezensenten (s. u.). Etwaiges Schreiben an Rickert nicht überliefert.11↑Fichte für die Frommann’schen Klassiker ] wurde nicht von Rickert verfasst; vgl. Rickert an Vaihinger vom 4.8.1898 und vom 30.7.1899.▲