Bibliographic Metadata
- TitleRudolf Reicke an Vaihinger, Königsberg, 7.3.1898, 3 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 3 c
- Creator
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- ParticipantsErich Adickes ; Emil Arnoldt ; Friedrich August Stägemann ; Horaz (Quintus Horatius Flaccus) ; Joachim Heinrich Campe ; Johann Heinrich Tieftrunk ; Immanuel Kant ; Karl August Ludwig Philipp Varnhagen von Ense ; Karl Kehrbach ; Ludmilla Assing ; Ludwig Noack ; Pauline Bohn ; Persius (Aulus Persius Flaccus) ; Rose Burger ; Sophia Victoria Krebs
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 3 c
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Rudolf Reicke an Vaihinger, Königsberg, 7.3.1898, 3 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 3 c
Königsberg 7. März 98.
Verehrter, lieber Freund!
Dem Spürsinn, der die hülfreiche Hand und das gute Herz meiner lieben Nichte[1] allzeit u. allwegs so sehr zu meinen Gunsten, wie mich selbst begleitet, habe ichs zu verdanken, daß nun doch noch die vermuthliche Quelle jener Prophezeiung Kants aus dem J[ahr] 1797 bei Noack[2] nachzuweisen ist[3]. Varnhagen v. Ense[4] berichtet in seinen von Ludmilla Assing[5] herausgegebenen[a] Tagebüchern am 6ten Mai 1837: „Stägemann[6] erzählte mir von Kant folgende merkwürdige Äusserung; derselbe habe ihm mit diesen eigenen Worten im J[ahre] 1797 gesagt: „Ich bin mit meinen Schriften um ein Jahrhundert zu früh gekommen, nach hundert Jahren wird man mich erst recht verstehen und dann meine Bücher aufs neue studiren u. gelten lassen!““[b][7] Da die Tagebücher erst 1861 erschienen sind, so konnte Noack sie noch nicht in seinem Buche: „Kants Auferstehung aus dem Grabe“ 1861 verwerthen.[8] Wie schade, daß ich Ihnen dies nicht schon im Jan[uar] mittheilen konnte! Das sind nun leider die Folgen der Zerstreutheit meiner Sammlungen; es sind der Notizen für diese so zahllos viele, daß ich sie bei dem Mangel an Zeit und Ordnungssinn nicht immer sofort am richtigen Orte unterbringen konnte; hatten sie sich dann wiederholt zu sehr aufgehäuft, so wurden sie nicht auf-, sondern weggeräumt, | in Kasten und Mappen verwahrt und kamen wie aus den Augen so auch aus dem Sinn u. schließlich ganz in Vergessenheit. Jetzt ist meine l.[c] Nichte neben ihrer Hauptarbeit, der Unterstützung bei meinen Arbeiten für Kant’s Briefwechsel[9], emsig dabei, meine zerstreuten Collectaneen zu ordnen; hätte ich ihre[d] Hülfe doch früher gehabt, es stünde besser mit der Benutzung meiner Schätze!
Haben Sie, bester Freund, besten Dank für das freundliche Wohlwollen, womit Sie meiner Kantiana noch kurz vor Thoresschluß in Ihren Kantstudien gedacht haben.[10]
Den Brief Kants an Tieftrunk vom 12. Juli 97 habe ich vor etwa 2 Jahren nach dem Original copiren können; eine gute Abschrift wurde mir auch noch jüngst von meinem Freunde Dr. Tobias[11] in Berlin zugeschickt; aber auch Ihre Notiz „vom Autographenmarkt“[12] ist mir sehr werthvoll.
Was Sie in Ihrer „Säcularerinnerung“[13] mittheilen, war mir neu u. darum um so interessanter. Kehrbach hat in seiner Reclam-Ausg[abe] von Kant „Zum ewig[en] Fr[ieden]“ Campe’s[14] nicht erwähnt, wohl aber Adickes in seiner German Kantian Bibliography[e][15] unter Nr. 1845. Was Sie in Betreff der puristischen Bestrebungen sagen, ist ganz nach meinem Sinn u. war es von jeher.
Den Horazischen Stammbuchvers[16]: „Animum rege, qui, nisi paret, Imperat“ kann ich auch noch zweimal | nachweisen, 1)[f] vom 24. Apr[il] 1784 u. 2) undatiert (wahrscheinl[ich] nach 1794.) Viel häufiger schrieb Kant den Spruch aus Persius ein: „Quod petis in te est – – Ne te quaesiveris extra.“ nach meinen Notizen 5mal: 24. März 77, 8. März 80, 19. März 85, 25. Juni 85 u. undatiert (zwischen 1790–92). Am häufigsten aber kommt der Spruch zur Anwendung: „Ad poenitendum properat cito qui iudicat“ ich habe ihn 7mal: 17. Juli 89, 2. März 92, 14. September[g] 92, 28. Aug[ust] 96, 5. Nov[ember] 96, 20. Jun[i] 98 u. 15. Jul[i] 98. – Nur einmal habe ich notirt, 28. Apr[il] 78: „Strenua nos exercet inertia – – – quod petis hic est.“ Horat[ius]. – Wenn ich nun noch den Spruch vom 16. Juli 1757: „Großen Herren und schönen Frauen Soll man wohl dienen, doch wenig trauen“ anführe, so ist meine Sammlung von Kants Stammbuchversen erschöpft. Da ich der Kant-Correspondenz doch wol die Stammbuchverse noch werde hinzufügen müßen[17], so wollte ich Ihnen mein Verzeichnis kurz mittheilen u. Sie bitten, vorkommenden Falls auf seine Vermehrung Bedacht zu nehmen.
Gleichzeitig übersende ich unter Streifband für Ihre Bibliothek ein Exemplar der Buchausgabe von Arnoldts Beiträgen[18] u. bin in Freundschaft u. Verehrung Ihr treu ergebener
R. Reicke.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑meiner lieben Nichte ] meint Rose Burger (Lebensdaten nicht ermittelt; https://d-nb.info/gnd/117166898 (8.7.2024); vermutlich vor 1891 bis nach 1938); Burger war mit Reicke verschwägert (Naragon, Steve/Stark, Werner: Ein Geschenk für Rose Burger. Notizen und Hinweise zu einem neu aufgefundenen Kant-Blatt. In: Kant-Studien 104 (2013), S. 1–12, hier S. 2–3; Näheres zur Verwandtschaft ebd., S. 3, Anm. 6), arbeitete nach Reickes Tod an der Herausgabe der 2. Aufl. des Briefwechsels der Akademie-Ausgabe von Kants Gesammelten Schriften und damit der ersten Auflage des (von Reicke nicht mehr besorgten) Kommentarbandes mit (ebd., S. 3, Anm. 6; vgl. Menzer, Paul: Die neu aufgefundenden Kantbriefe. In: Kant-Studien 13 (1908), S. 304–312, hier S. 305; sowie Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant’s gesammelte Schriften Bd. 10: Briefwechsel 1747–1788. 2. Auflage. Berlin/Leipzig: De Gruyter 1922, S. VI, und dies. (Hg.): Kant’s gesammelte Schriften Bd. 13: Briefwechsel. Anmerkungen und Register. Berlin/Leipzig: De Gruyter 1922, S. XXI). Nach Darstellung Ilse Reickes (einer Enkelin Rudolf Reickes) war Rose Burger eine Nichte der Begründerin der Frauenwohlfahrt und der Frauenbewegung Pauline Bohn (1834–1926; WBIS), eine Tochter eines Malers Oswald Burger (Näheres nicht ermittelt) und die erste Ehrendoktorin der Universität Göttingen (Reicke, Ilse: Ehrentorten für Pauline Bohn. Eine Königsberger Vorkämpferin für die Rechte der Frau. In: Das Ostpreußenblatt, Folge 15 vom 25.05.1953, S. 5); letzteres ist jedoch in den Universitätsakten nicht nachweisbar (Naragon/Stark a. a. O., S. 3, Anm. 6; vgl. ebd. zu weiteren Darstellungen Ilse Reickes). Mit Dank an Dr. Sophia Victoria Krebs.2↑Noack ] Ludwig Noack (1819–1885), Theologe und Philosoph, 1855 ao. Prof. für Philosophie, 1870 zusätzlich Gehilfe der Universitätsbibliothek, 1873 o. Prof. und erster Bibliothekar in Gießen (BEdPh); vgl. Noack: Kant. In: Noack: Philosophie-geschichtliches Lexikon. Historisch-biographisches Handwörterbuch der Geschichte der Philosophie. Leipzig: Koschny 1879. Digitalisat: https://archive.org/details/philosophiegesc01noacgoog/ (19.4.2024), S. 466–498, hier S. 497.3↑daß nun doch … nachzuweisen ist ] vgl. die zunächst erfolgte negative Rückmeldung Reickes in einem nicht überlieferten, aber in Auszügen veröffentlichten Schreiben in Vaihinger: Varia. In: Kant-Studien 2 ([1897]/1898), S. 494–504, darin der Abschnitt: Eine erfüllte Prophezeihung Kants?, S. 498–499. Vaihinger hatte an dieser Stelle die Leser der Kantstudien zur Mitarbeit aufgefordert: Vielleicht ist ja einer unserer Leser so glücklich, die Quelle des merkwürdigen Ausspruches zu finden? Den entsprechenden Artikel verfasste v. Lind, Paul: Eine erfüllte Prophezeihung Kants. In: Kant-Studien 3 ([1898]/1899), S. 168–175, vgl. die erste Fußnote (S. 168): Anmerkung der Redaktion. Die Quelle des Kantischen Ausspruches ist auch schon durch R. Reicke aufgefunden und uns freundlichst mitgeteilt worden.4↑Varnhagen v. Ense ] Karl August Ludwig Philipp Varnhagen von Ense (1785–1858), Diplomat, Schriftsteller, Übersetzer und Autographensammler (NDB).5↑Ludmilla Assing ] Ludmilla Assing (1821–1880), Schriftstellerin und Nichte Karl August Varnhagen von Enses, 1862 Verurteilung wegen der Herausgabe der Tagebücher ihres Onkels, Emigration nach Florenz (NDB).6↑Stägemann ] im Haus des preußischen Staatsmanns Friedrich August Stägemann (1763–1840) ging nach Einschätzung der ADB u. a. auch Kant mit Vorliebe aus und ein.7↑Varnhagen … lassen!““ ] vgl. Tagebücher von K. A. Varnhagen von Ense Bd. 1, hg. v. Ludmilla Assing. Leipzig: Brockhaus 1861, S. 46. Digitalisat: https://www.google.de/books/edition/Tageb%C3%BCcher_von_K_A_Varnhagen_von_Ense/IqRhAxg3eTMC?hl=de&gbpv=1 (19.4.2024).8↑Da die Tagebücher … verwerthen. ] vgl. die ursprüngliche Rückmeldung Reickes in Vaihinger: Varia. In: Kant-Studien 2 ([1897]/1898), S. 494–504, darin der Abschnitt: Eine erfüllte Prophezeihung Kants?, S. 498–499.9↑meinen Arbeiten für Kant’s Briefwechsel ] für die Zweite Abteilung: Briefwechsel der Akademie-Ausgabe von Kants Schriften. Reicke gab die Erstauflage der Bände 1–3 (1900–1902) heraus, verstarb jedoch, bevor er den letzten Band (Anmerkungen und Register) veröffentlichen konnte.11↑Dr. Tobias ] gemeinter nicht ermittelt; im Adreßbuch für Berlin und seine Vororte. 1898. Bd. 1. Berlin: August Scherl [1898], S. 1382 sind folgende Personen des Nachnamens Tobias mit Doktortitel verzeichnet: G., Dr. phil, Chemiker, W. Nollendorfstr. 22. pt. f. Dr. Ludwig Ellon & Co; W., Dr. med., Privatier, W Eisenacherstr. 69.70.12↑Ihre Notiz „vom Autographenmarkt“ ] meint vermutlich die Notiz bezüglich des erwähnten Briefes von Kant an Tieftrunk in Vaihinger: Varia. In: Kant-Studien 2 ([1897]/1898), S. 494–504, hier S. 503.13↑Ihrer „Säcularerinnerung“ ] vgl. Vaihinger: Varia. In: Kant-Studien 2 ([1897]/1898), S. 494–504, darin der Abschnitt: Eine Säkularerinnerung, S. 501–502.15↑Adickes in seiner German Kantian Bibliography ] vgl. den Kommentar zu Adickes an Vaihinger vom 15.12.1892.16↑Den Horazischen Stammbuchvers ] vgl. Vaihinger: Varia. In: Kant-Studien 2 ([1897]/1898), S. 494–504, darin der Abschnitt: Noch einmal das Stammbuchblatt mit dem Horazvers, S. 502.18↑Arnoldts Beiträgen ] vgl. Arnoldt, Emil: Beiträge zu dem Material der Geschichte von Kant’s Leben und Schriftstellerthätigkeit in Bezug auf seine „Religionslehre“ und seinen Conflict mit der preussischen Regierung. Königsberg: Beyer 1898.▲