Bibliographic Metadata
- TitleLudwig Busse an Vaihinger, Marburg, 6.11.1895, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 3 p, Nr. 1
- Creator
- Recipient
- ParticipantsErich Adickes ; Alois Riehl ; August Weismann ; Hugo Bergmann ; Ludwig Busse ; Carl Braig ; Christoph Sigwart ; Hermann Cohen ; Edmund Hardy ; Edmund Husserl ; Rudolf Eucken ; Kuno Fischer ; Friedrich Theodor Althoff ; Gustav Glogau ; Heinrich Rickert ; Max Heinze ; Hugo Münsterberg ; Hugo Spitzer ; David Hume ; Jakob Lüroth ; Johannes Rehmke ; Johannes von Kries ; Julius Bergmann ; Immanuel Kant ; Gottfried Wilhelm Leibniz ; Ludwig Stickelberger ; Matthias Baumgartner ; Max Weber ; Paul Natorp ; Otto Caspari ; Richard Avenarius ; streichen! ; Wilhelm Wundt
- Place and Date of Creation
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 3 p, Nr. 1
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Ludwig Busse an Vaihinger, Marburg, 6.11.1895, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 3 p, Nr. 1
Marburg, 6 Nov[ember] 95.
Hochverehrter Herr Professor!
Gestatten Sie mir, Ihnen meinen ergebensten Dank für Ihre Mitteilungen[1] sowie nochmals für Ihre Verwendung in meinem Interesse auszusprechen. Zu der Hoffnung, das Ordinariat in Freiburg[2] zu erhalten, habe ich mich eigentlich in wachem und bewußtem Zustande noch nicht aufzuschwingen vermocht; mein Hauptstreben ging darauf, zu versuchen, mit auf die Liste zu kommen, da das mir meine hiesige Position schon stärken würde. Ich habe hier auch einen sehr dankbaren und befriedigenden Wirkungskreis gefunden, auch dieses | Semester wieder zwei vorzüglich besuchte Vorlesungen[3] zustande gebracht, einige 30 in der Privatvorlesung und zirka 60 im Publicum[a]. Unmöglich ist es ja nicht, hier zunächst Extraordinarius zu werden[4].
An der Hoffnung, mit auf die Liste zu kommen, halte ich noch fest. Heinze hat sich für mich bei Riehl verwandt; auch bei den beiden Mathematikern[5] und Weismann[6] ist, was konnte, geschehen; die katholische Partei[7] soll, wie ich höre, zwar einen Katholiken in erster Linie haben wollen, aber auch nicht direct gegen mich sein, wenn sie den Katholiken (Scholastiker) nicht bekommen können. So ist einige Hoffnung vorhanden. Das erste Anrecht auf die Professur dürfte übrigens Münsterberg[8] haben, falls | er – er hat eine Vorlesung[9] angekündigt – zurückgekehrt ist.
Beiträge für die Kantstudien[10] stelle ich recht gerne in Aussicht. Ich bin allerdings zur Zeit nicht mit Kant beschäftigt, wenngleich meine Arbeit fest mit ihm zusammenhängt. Die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, eine systematische Kritik der Kantischen Erkenntnistheorie zu geben, macht eine kurze Darstellung derselben nötig, diese wieder hat mich, wie natürlich, in die Entwicklungsgeschichte der Kantischen Philosophie hineingeführt. Die Beschäftigung hiermit führte aber wieder weiter. Ich sah mich genötigt, vor allem Hume u. Leibniz und deren Problemstellungen genau durchzugehen, um die Kantische Entwicklung in ihrem Zusammenhang hiermit tiefer aufzufassen. Bei Hume sitze ich jetzt und unter|suche namentlich, wie weit sein sog. Skeptizismus geht und wie viel der mit seiner Kausalitäts-Substanztheorie[b] zu thun hat. Danach soll eine Untersuchung über Leibniz Lehre der verités de fait u. v[on] d[er] raison[c] folgen, zu der Adickes neue Gesichtspunkte[11] beigebracht hat. Vielleicht lassen sich auch solche Arbeiten – falls Sie einmal gerade in Verlegenheit sind – unter passendem Titel als Kantstudien buchen[d], sonst wird es mir, wenn ich zu Kant zurückkomme, eine Ehre und ein Vergnügen sein, die Resultate[12] (ich hoffe hauptsächlich auch für den Durchgang Kants durch Hume’s Empirismus[e] (Geisterseher[13]) auch gegen Adickes Gesichtspunkte beizubringen) bei Ihnen niederzulegen und zugleich den zweiten Teil meines Buches[14] dadurch zu entlasten. – Neugierig bin ich, was sie jetzt in Heidelberg anfangen werden, wo K[uno] Fischer jetzt 2 philos[ophische] u. 1. Litteraturprofessur[f] auf sein Haupt vereinigt und Caspari ex ist[15].
Mit hochachtungsvollen Gruß Ihr ergebenster
L. Busse.
Kommentar zum Textbefund
a↑einige 30 in der Privatvorlesung und zirka 60 im Publicum ] am linken Rd. mit Blaustiftkringel markiertKommentar der Herausgeber
2↑Ordinariat in Freiburg ] Alois Riehl, der die Universität Freiburg zum Beginn des SS 1896 verlassen wollte, um einen Ruf als Nachfolger Glogaus nach Kiel anzunehmen, hatte Schwierigkeiten, seinen Wunschkandidaten Heinrich Rickert als Nachfolger durchzusetzen. Die Vorschläge der Kommission für die Wiederbesetzung (von Riehls Hd.) vom 3.12.1895 lauteten: da Rudolf Eucken kaum zu gewinnen sei, 1. Rickert, 2. Hugo Spitzer, 3. Edmund Husserl. Der Akte liegt eine Abschrift eines Schreibens von Christoph Sigwart an Riehl vom 6.12.1895 bei, in dem es heißt: Ihre Mitteilung, daß die Uebertragung Ihrer Stelle an Rickert auf Schwierigkeiten stößt, hat mich nicht wenig überrascht; denn ich nahm sozusagen als selbstverständlich an, daß er an Ihre Stelle vorrückt. Sigwart habe Rickert als einzigen auf Nachfrage nach Czernowitz empfohlen und würde ihn jederzeit als seinen eigenen Nachfolger vorschlagen. Eine neue Listenreihenfolge vom 6.12.1895 lautete Spitzer, Rickert, Husserl; dazu zwei Separatvoten: 1. der Naturwissenschaftler in der Fakultät vom 6.12.1895, die Rickert überhaupt nicht nominiert sehen wollten, nicht nur wegen des Grundsatzes, keine Hausberufungen durchzuführen, sondern vor allem wegen Rickerts zu geringer literarischer bzw. wissenschaftlicher Leistungen, insbesondere auf naturwissenschaftlichem Gebiet; um das Ansehen der Fakultät zu wahren, soll keine provisorische Verwaltung des Lehrstuhls durch Rickert zugelassen werden. Dagegen trat 2. am 7.12.1895 Max Weber auf, der Rickert an erster Stelle vorschlug, im sozialwissenschaftlich-methodologischen Interesse nach bewährter Zusammenarbeit. Die Liste sei zudem nicht ordnungsgemäß zustande gekommen, auswärtige Gutachten seien überhaupt nicht angefordert worden. Weber konstatierte die Uneinigkeit der Fakultät über die Aufgabe des philosophischen Lehrstuhls, entweder Dienstleister für Naturwissenschaften oder Partner der Historiker und Sozialwissenschaftler zu sein. Zumindest die provisorische Verwaltung des Lehrstuhls solle unbedingt Rickert überantwortet werden. Auf diese Separatvoten hin wurde die Berufungsliste vom Senat der Universität am 9.12.1895 abgelehnt. Nach Aufforderung des Ministeriums der Justiz, des Kultus und des Unterrichts vom 25.4.1896, einen Kandidaten zu benennen, wurde Rickert ab 1.5.1896 mit der provisorischen Verwaltung des Lehrstuhls beauftragt. Das Ministerium versuchte in der darauf folgenden Zeit vergeblich, Eucken zu gewinnen und erbat deswegen am 26.6.1896 erneut Gutachten über Rickert und Husserl. Die neue Berufungsliste der Fakultät vom 21.7.1896 lautete 1. Richard Avenarius, 2. Johannes Rehmke, 3. Rickert. Berufen wurde schliesslich Rickert zum 1.10.1896 (vgl. für sämtliche Nachweise UA Freiburg, B 38/283, Wiederbesetzung des Lehrstuhls für Philosophie 1886–1913).3↑zwei vorzüglich besuchte Vorlesungen ] Busse bot für das WS 1895/1896 an: Ueber die Möglichkeit der Metaphysik (Verteidgung derselben gegen den Skepticismus und Kriticismus, mit besonderer Berücksichtigung der Kantischen Erkenntnisskritik, Mittwoch 3 Uhr öffentlich; Allgemeine Geschichte der Philosophie, Montag Dienstag und Donnerstag 3 Uhr, vgl. das entsprechende Marburger Vorlesungsverzeichnis (https://www.uni-marburg.de/de/uniarchiv/recherche/digitale-ressourcen (21.8.2024)).4↑Extraordinarius zu werden ] dieser heiklen Frage kam die Berufung Busses nach Rostock zuvor. Die Habilitation von Ludwig Busse (1862–1907; Studium an den Universitäten Leipzig, Innsbruck und Berlin, 1885 Promotion in Berlin, Professor in Tokio (1887–1892), 9.5.1894 Habilitation in Marburg, Professuren in Rostock (1896–1898), Königsberg (1898–1904), Münster (1904–1907) u. Halle (1907); seit 1902 Leiter der Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik; NDB, BEdPh) als Protegé von sowohl Julius Bergmann als auch Friedrich Theodor Althoff, hatten den Bruch in der Philosophischen Fakultät der Universität Marburg endgültig besiegelt. Cohen und Natorp wiesen die Habilitationsschrift Busses als ungenügend ab, während der bereits emeritierte Bergmann seinen Kandidaten mithilfe auswärtiger Gutachten gegen alle Widerstände durchsetzte (vgl. Helmut Holzhey: Cohen und Natorp Bd. 1. Basel/Stuttgart: Schwabe 1986, S. 16–18; dass. Bd. 2, S. 223–230 u. 500–504; Ulrich Sieg: Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus. Die Geschichte einer philosophischen Schulgemeinschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann 1994, S. 190–195).6↑Weismann ] August Weismann (1834–1914), Mediziner u. Zoologe, 1856 in Göttingen promoviert, 1856–1863 Tätigkeiten als Arzt und weiteres Studium in Gießen, 1863 in Freiburg habilitiert, 1865 ao. Prof. für Zoologie in Freiburg, 1868 Gründung des Zoologischen Instituts, 1873 o. Prof., 1909 Verleihung der Darwin-Wallace-Medaille, 1912 emeritiert (https://www.leo-bw.de/detail/-/Detail/details/PERSON/kgl_biographien/118766406/Weismann+August+Friedrich+Leopold (21.8.2024)).7↑katholische Partei ] als Verfechter einer katholischen bzw. sog. Confessionellen Philosophie-Professur an der Universität Freiburg, zunächst innerhalb der theologischen Fakultät. Diese hatte am 10.6.1885 die Einrichtung eines Lehrstuhls für propädeutische Theologie, insbesondere für Religionsphilosophie, Geschichte der Religion, Apologetik und verwandte Disziplinen beantragt, der am 26.3.1886 durch die Habilitation von Edmund Hardy (1852–1904) für philosophische Disziplinen (befördert zum Extraordinarius 3.11.1887, entlassen 26.9.1893) vorbereitet wurde, so dass 1893 Carl Braig (1853–1923) berufen werden konnte. Am 17.7.1897 erhielt Braig jedoch einen anderen Lehrauftrag (für Dogmatik), da die philosophische Fakultät gegen ihn als Priester protestiert hatte. Am 22.10.1897 wurde Matthias Baumgartner (1865–1933) aus München berufen (BEdPh). Der Lehrstuhl diente dem philosophischen Unterricht von Theologiestudenten in Erkenntnislehre (Logik), Psychologie, Metaphysik, Geschichte der griechischen, aristotelischen und christlichen Philosophie. Die Belegung dieser Fächer war Bedingung zur Zulassung zum Kirchenamt. 1897 wurde der Antrag eingebracht, diesen Lehrstuhl an die philosophische Fakultät als der eigentlich zuständigen zu transferieren: Bei Beratung des Universitätsbudgets in der II. Kammer der Stände wurde die Frage der Einreihung der Professur für christliche Philosophie an die philosophische Fakultät in Anregung gebracht, welche Maßnahme auch Seitens der theologischen Fakultät als sachgemäß und für die Vertretung des in Frage stehenden Faches zweckmäßiger als die geltende Art der Regelung erklärt wird (Ministerium der Justiz, des Kultur und Unterrichts an philosophische Fakultät vom 26.11.1897), mit der Begründung, das ergäbe die Möglichkeit der Promotion in christlicher bzw. mittelalterlicher Philosophie; es sei bereits an anderen Hochschulen der Fall, in München z. B., ein katholischer Priester sei dort kein Hindernis (vgl. für sämtliche Nachweise UA Freiburg, B 38/131, Angelegenheiten der zweiten philosophischen Professur 1897–1916).8↑Münsterberg ] es gelang Hugo Münsterberg (1863–1916) nicht, nach seinen Erfolgen in Harvard (Professur seit 1892) in Deutschland eine Professur zu erhalten. V. a. zwei Gründe machte Münsterberg dafür verantwortlich: die ausgesprochene Feindschaft der philosophischen Fakultäten, insbesondere der Freiburger, der experimentellen Psychologie gegenüber, sowie den grassierenden akademischen Antisemitismus, der Münsterberg besonders deswegen betroffen machte, weil er mit dem Judentum außer seiner „Abstammung“ nichts zu tun habe (Münsterberg an Wundt vom 26.3.1896). Vgl. die Briefe Münsterbergs des Jahres 1896 an Wilhelm Wundt (im digitalisierten Nachlass Wilhelm Wundts: https://collections.uni-leipzig.de/wundt (21.8.2024)), die von den vergeblichen Bemühungen Münsterbergs, Riehls, Rickerts u. a. zeugen und die Namen seiner „Feinde“ (Johannes von Kries, vgl. Münsterberg an Wundt vom 31.3.1896, selbst Paul Natorp, den er für seinen Freund gehalten habe) nennen. Münsterberg hatte mit Rufschädigung in Freiburg bereits zu kämpfen, als seine Ernennung zum Extraordinarius zu scheitern drohte, vgl. UA Freiburg, B 38/323 Habilitation Hugo Münsterberg: Alois Riehl hob in seinem Antrag vom 5.12.1890 hervor, daß Münsterberg seit WS 1878/88 als erfolgreicher Lehrer wirke (seit SS 1888 auch für experimentelle Psychologie in einem Laboratorium, das Münsterberg privat betrieb, mit einem staatlichen Zuschuß von lediglich 200 Mark). Riehl erwähnt weiter Münsterbergs Neigung zu rascher, nicht hinlänglich vorbereiteter Schlußfolgerungen, die indes leicht korrigierbar sei. Das war das Einfallstor für den Senat, am 19.1.1891 den Antrag nicht zu befürworten. Die ministerielle Ernennung erfolgte trotzdem 1892.9↑eine Vorlesung ] im WS 1895/1896: Allgemeine Psychologie, zweistündig (https://www.ub.uni-freiburg.de/recherche/digitale-bibliothek/freiburger-historische-bestaende/vorlesungsverzeichnisse/ (21.8.2024)).11↑Adickes neue Gesichtspunkte ] vgl. Erich Adickes: Kantstudien. Kiel/Leipzig: Lipsius & Tischer 1895.13↑Geisterseher ] vgl. Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766).14↑zweiten Teil meines Buches ] u. U. von Busse: Philosophie und Erkenntnistheorie. Leipzig: S. Hirzel 1894. Ein 2. Teil ist nicht erschienen.15↑und Caspari ex ist ] Otto Caspari (1841–1917), 1869 in Heidelberg habilitiert, 1877 ao. Prof., Gesuche zur Übernahme in den Staatsdienst wurden abgelehnt. Am 22.7.1895 Entzug der Lehrbefugnis und Aberkennung des Professorentitels wegen einer außerehelichen Beziehung, aus der 5 Kinder hervorgegangen sind (Dagmar Drüll: Heidelberger Gelehrtenlexikon 1803–1932. 2. Aufl. Wiesbaden: Springer 2019, S. 163).▲