Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Moriz Carrière, Halle, 10.2.1894, 4 S., hs., Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, Familienarchiv Carrière-Liebig, O 12, Nr. 134
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- Place and Date of Creation
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- Physical LocationHessisches Staatsarchiv Darmstadt, Familienarchiv Carrière-Liebig, O 12, Nr. 134
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Vaihinger an Moriz Carrière, Halle, 10.2.1894, 4 S., hs., Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, Familienarchiv Carrière-Liebig, O 12, Nr. 134
Halle a/S.
10.II.94.
Hochzuverehrender Herr Professor!
Wir sind hier in Preußen Alle recht gespannt darauf zu erfahren, wer denn wohl der Nachfolger von Stumpf[1] werden soll? Wir alle hoffen und wünschen, daß es doch ein Norddeutscher sein möchte, damit bei uns eine Lücke entsteht. Dieser Wunsch ist bei uns um so lebhafter, als ja Würzburg definitiv an einen Ultramontanen, an Stölzle[2], gefallen zu sein scheint, so daß dadurch keine Bewegung bei uns statt|findet. Und da nun Stumpf nach Preußen kommt, so ist der Wunsch allgemein, es möchte einer aus Norddeutschland nach München berufen werden. Wir haben hier in Preußen einige Extraordinarien, außer mir noch bes[onders] Ebbinghaus[3] in Berlin, welche auf diese Weise direct oder indirect vorwärts zu kommen hoffen. Denn wenn eine Lücke bei uns entstünde, so würden wir doch dabei gewinnen. Ebbinghaus ist auch schon 7 Jahre Extraordinarius, ich gar 11 Jahre, da wünscht man endlich unter ein festes Dach und Fach zu kommen. | Schade, daß Stumpf für mein Forschen keinen echten Sinn hat; er ist so ganz Psychologe, daß ihm mein Geleis nicht zusagt; sonst würde er vielleicht an mich denken.
In diesem Semester lese ich auch unter Anderem über die „Grundlagen der Aesthetik“[4]; da bin ich recht froh, an Ihrer Aesthetik[5] ein unerschöpfliches Reich von Ideen und Thatsachen zu besitzen, welche mir und meinen Studenten zu Gute kommen. Ihre Verbindung von Idealismus und Realismus scheint mir den rechten Mittelweg einzuschlagen zwischen Speculation und Empirie. Außerdem bin | ich mit einer Arbeit über Logik[6] sowie mit einem Beitrag zur griechischen Philosophie[7] beschäftigt.
Ich glaube, ich habe Ihnen schon geschrieben, daß ich jüngst den Herrn Minister[8] v[on] Hofmann in Berlin aufgesucht habe, um ihm mein Beileid[9] auszusprechen. Es hat mich sehr interessirt, ihn so wohl zu finden. Gerne würde ich auch Sie wieder einmal sehen und mit Ihnen über allerlei sprechen, was mich bewegt. Ich finde, daß man mit den Jahren und Erfahrungen immer mehr zunimmt an metaphysischem und religiösem Bedürfniß[10].
In alter Verehrung Ihr herzlich ergebener
H. Vaihinger.
Kommentar der Herausgeber
1↑Nachfolger von Stumpf ] Carl Stumpf, seit 1889 o. Prof. in München (zuvor 1873 in Würzburg, 1879 in Prag, 1884 in Halle), wurde 1893 nach Berlin berufen. Sein Nachfolger wurde Theodor Lipps (1851–1914), zuvor in Breslau, geb. in Wailhalben bei Pirmasens (BEdPh).3↑Ebbinghaus ] Hermann Ebbinghaus (1850–1909), Psychologe, 1880 in Berlin habilitiert, 1886 dort ao. Prof., 1894 o. Prof. in Breslau, 1905 in Halle (NDB).4↑„Grundlagen der Aesthetik“ ] Vaihinger hatte für das WS 1893/1894 u. a. angeboten: Grundbegriffe der Ästhetik (Vorlesungsverzeichnis Halle-Wittenberg).5↑Ihrer Aesthetik ] vgl. Carrière: Aesthetik. Die Idee des Schönen und ihre Verwirklichung durch Natur, Geist und Kunst. Leipzig : Brockhaus 1859. 3 Aufl. bis 1885.6↑Arbeit über Logik ] nicht ermittelt; nicht erschienen (vgl. Vaihinger an Eduard von Hartmann vom 8.9.1893).7↑Beitrag zur griechischen Philosophie ] nicht ermittelt; nicht erschienen (vgl. Vaihinger an Althoff vom 4.2.1894 [1]).8↑Herrn Minister ] Karl Wilhelm von Hofmann (1827–1910), war 1879–1880 Staatssekretär (Minister) des Reichamts des Innern gewesen (https://www.lagis-hessen.de/pnd/11908127X (21.8.2024)). Justus Carrière war sein Schwiegersohn (https://digitalisate-he.arcinsys.de/hstad/o_12/findbuch.pdf (21.8.2024), S. XVI).10↑metaphysischem und religiösem Bedürfniß ] Anspielung auf Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Bd. (1844). Ergänzungen zum ersten Buch. Zweite Hälfte, Kapitel 17: Ueber das metaphysische Bedürfniß des Menschen.▲