Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Eduard von Hartmann, Friedrichroda, 8.9.1893, 4 S., hs., Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Nachlass Eduard von Hartmann
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- Physical LocationWürttembergische Landesbibliothek Stuttgart, Nachlass Eduard von Hartmann
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Vaihinger an Eduard von Hartmann, Friedrichroda, 8.9.1893, 4 S., hs., Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Nachlass Eduard von Hartmann
Friedrichroda i/Thür[ingen]
8. Sept[ember] 93.
Hochverehrter Herr!
Sie haben mich durch die Zusendung Ihrer neuen Kantschrift[1] ebenso sehr geehrt als erfreut. Obgleich ich sonst die Sommerfrische nicht durch Studium entweihe, am allerwenigsten durch Beschäftigung mit einem Gegenstand, der mich schon so viel in Anspruch nimmt, so habe ich doch dem Drang nicht widerstehen können, Ihre neue Schrift kennen zu lernen, einerseits[a] unterstützt durch mehrere Tage schlechtes Wetter, welche wiederum | ein schlagender Beweis für die unzweckmäßige Einrichtung unserer Welt[2] sind, da man doch das Anrecht auf gutes Wetter durch monatelanges Warten auf die Sommerfrische erworben hat – andrerseits gehindert durch das Schreien eines einjährigen Jungen[3], an dessen Dasein ich nicht ganz unschuldig bin, der aber für das Studium seines Vaters noch nicht das geringste Verständnis besitzt.
Aber der Reiz des Gegenstandes hat doch alle Hindernisse überwunden, und meine Beharrlichkeit habe ich nicht zu bereuen – habe ich doch in Ihrer Schrift eine sehr interessante Lectüre kennen gelernt, über die ich mich um so mehr freue, als ich in wesentlichen Punkten mit Ihnen übereinstimme. Was Sie gegen | Kant vorbringen, kann ich fast Alles unterschreiben, wenn ich auch, im Ganzen genommen, sein Verdienst höher schätze und seinem erkenntnistheoretischen Agnosticismus mehr Werth zuschreibe. Aber Ihre Einwände gegen seine einzelnen Positionen halte ich fast alle für durchaus berechtigt, und freue mich über die schlagende Art und Weise, mit der Sie auch dieses Mal wieder Ihre Ansichten ausdrücken. Auch was Sie über Kant sagen, hat mich überall gepackt; was Sie über die doppelte Affection und die doppelte Causalität sagen, wird mir Gelegenheit geben[b], über diesen wichtigsten Punkt aufs Neue nachzudenken; bis auf weiteres kann ich mich noch nicht davon lossagen, daß Kant ein Mittelding zwischen Ding | an sich und Erscheinung und dem entsprechend auch die empirische Affection im Ernste, aber allerdings nur an einzelnen Stellen gelehrt habe. So wird meinem Commentar und Ihrem Werke viel Gewinn erwachsen. Voraussichtlich werde ich auch Gelegenheit haben, über dasselbe in dem „Jahresbericht“ im „Archiv“ zu referiren[4]; einstweilen stecke ich in logischen und aesthetischen Studien[5].
Mit dem herzlichen Dank für Ihre freundliche Gabe Ihr aufrichtig ergebener
H. Vaihinger.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑Beweis für die unzweckmäßige Einrichtung unserer Welt ] Anspielung auf den Pessimismus Schopenhauer/von Hartmann’scher Prägung.3↑einjährigen Jungen ] Richard Vaihinger, geb. 25.8.1892 (vgl. Vaihinger an Althoff, Geburtsanzeige vom 25.8.1892).4↑in dem „Jahresbericht“ im „Archiv“ zu referiren ] vgl. Vaihinger: Bericht über die Kantiana für die Jahre 1892 bis 1894. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 8 (1895), S. 419–440, zu von Hartmann S. 434–438.5↑logischen und aesthetischen Studien ] nicht ermittelt, vermutlich zur Vorbereitung von Lehrveranstaltungen (vgl. Vaihinger an Moriz Carrière vom 10.2.1894).▲