Bibliographic Metadata
- TitleRudolf Reicke an Vaihinger, Königsberg, 26.7.1892, 3 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 3 c
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 3 c
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Rudolf Reicke an Vaihinger, Königsberg, 26.7.1892, 3 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 3 c
Königsberg 26. Juli 92
Sehr verehrter Freund!
Die in Mußmann’s[1] Gedächtnißrede auf Kant S. 16 erwähnte Notiz[2] über einen Brief Kants an Kästner[3] ist mir bekannt u. längst für meine Kant-Correspondenz verzeichnet, doch leider ohne den Brief selbst. Wo das Original sein mag?[4] Auf der Göttinger Bibliothek wol schwerlich, sonst hätte ich wol Nachricht davon. Es wäre wahrlich nicht unnützlich, wenn Sie selber einmal dort anfragen möchten. Was Ihre Datirung[5] desselben betrifft, so haben Sie vollkommen recht; daß aber Kästners Aufsätze im Philosophischen Magazin[6] für Kant die Veranlassung gewesen seien, an jenen zu schreiben, möchte ich nicht mit Ihnen annehmen. Es war vielmehr ein Empfehlungsbrief an den berühmten Mathematiker, den er seinem jungen Freunde u. Zuhörer Dr. [J. B.] Jachmann[7] nach Göttingen mitgab, gleichzeitig mit einem anderen an den berühmten Physiker Lichtenberg[8]. Gleichviel, der Brief Kants an Kästner ist bezeugt; er wird aber auch noch durch die Antwort Kästners vom 20. Dec[ember] 1790[9] bezeugt, die mit den Worten beginnt: „Es ist eine starke Prüfung in praktischer Philosophie, der Ew. W. mich aussetzen: durch Ihre[a] | Zuschrift nicht stolz zu werden.“ Dieser Brief ist abgedruckt in den „Dörptischen Beÿträgen für Freunde der Phil[osophie], Litt[eratur] u. Kunst herausgegeben von[b] Karl Morgenstern[10]“ Jahrg[ang] 1816. Erste Hälfte (Dorpat u. Leipz[ig] 1817)[11] S. 94–98. An einer Stelle gegen Schluß heißt es: „Zu der Aufstellung der Metaphysik im Zusammenhange wünsche Ew. W. Leben u. Gesundheit[c] u. hoffe die Ausführung zum Vortheile der Wissenschaft.“
Noch von einem anderen Briefe Kants an Kästner ohne Datum, aber aus d[em] J[ahr] 1793 kann ich berichten u. Sie kennen ihn auch aus [F. W.] Schubert[12] (K[ant’s] S[ämmtliche] W[erke] XI, 1. S. 163–164)[13]. [F. W.] Schubert kannte nur den Entwurf u. adreßirte ihn irrthümlich an Lichtenberg; er ist aber an Kästner gerichtet, wie nicht nur aus einem Vermerk am oberen Rande der ersten Seite des Originals, das mir im Decemb[er] 1885 vorgelegen hat, hervorgeht, sondern auch durch den Inhalt, der dem Inhalt des Kästnerschen Briefes vollkommen entspricht, bestätigt wird. In diesem Antwortschreiben Kants kommt nun jene von Mußmann angezogene Stelle nicht vor; wol aber bezeugt darin Kant selbst, daß[d] | sein erster Brief an Kästner vom J[ahre] 1790 eine Empfehlung für Dr. [J. B.] Jachmann war. Vielleicht ist dieser fragliche Brief auch jener von Kästner gemissdeutete „innige ehrerbietige Brief“, von dem Pörschke[14] spricht in seiner am 22. April 1812 gehaltenen Tischrede[15], die im „Königsberger Archiv für Philosophie“[e] I. Bd. 4. Stück 1812 abgedruckt ist (s[iehe] S. 539 u. vgl. [F. W.] Schubert Leben Kants K. S. W. XI, 2. S. 179[16].)
Mit Bedauern, daß ich Ihrem Wunsche[17] nicht in positiver Weise habe entsprechen können, grüße ich Sie herzlichst u. wünsche das allerbeste Wohlergehen Ihnen u. den Ihrigen.
In treuer Freundschaft Ihr
R. Reicke.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Mußmann’s ] Johann Georg Mußmann (1798–1833), 1815 Freiwilliger im Feldzug gegen Frankreich, 1819–1822 Studium der Philosophie in Halle, 1826 Promotion in Berlin, 1828 Habilitation, 1829 ao. Prof. in Halle (BEdPh).2↑Mußmann’s … Notiz ] vgl. Mußmann: Immanuel Kant. Eine Gedächtnißrede, gehalten vor einer Versammlung akademischer Bürger am 12ten Februar 1822. Halle: im Selbstverlag 1822. Digitalisat: https://www.google.de/books/edition/Immanuel_Kant/1UdTAAAAYAAJ?hl=de&gbpv=0 (19.4.2024), S. 16: Daher schrieb er [Kant] einst in einem Briefe an Kästner die merkwürdigen Worte: Wenn sein System völlig entwickelt wäre, würde man sehen, daß er die leibnitzsche Theorie nicht bestreiten, sondern erläutern und befestigen wolle. Vgl. zum abweichenden Wortlaut des Briefes Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant’s gesammelte Schriften Bd. 11 (2. Aufl.). Kant’s Briefwechsel. 1789–1794. Berlin/Leipzig: De Gruyter 1922, S. 186, Nr. 439.3↑Kästner ] Abraham Gotthelf Kästner (1719–1800), Mathematiker, Dichter und Philosoph, 1746 Prof. in Leipzig, 1756 in Göttingen, 1763 dort Leiter der Sternwarte (BEdPh).4↑ohne den … sein mag? ] Reicke verzeichnete den Brief für die 1. Aufl. der entsprechenden Abteilung der Akademie-Ausgabe als erwähnt, edierte jedoch den Brieftext nicht, da ihm der Brief bis dato noch immer nicht vorlag, vgl. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant’s gesammelte Schriften Bd. 11. Kant’s Briefwechsel. 1789–1794. Berlin: Reimer 1900, S. 177, Nr. 411b.5↑Ihre Datirung ] nicht ermittelt; im später im selben Jahr erschienenen 2. Bd. seines Kant-Kommentars datiert Vaihinger den Brief auf das Jahr 1790, vgl. Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Zum hundertjährigen Jubiläum derselben. Bd. 2. Stuttgart, Berlin, Leipzig: Union/Deutsche Verlagsgesellschaft 1892, S. 430.6↑Kästners … Magazin ] vgl. Kästner: Was heißt in Euklids Geometrie möglich? In: Philosophisches Magazin 2 (1789/1790), S. 391–402; ders.: Ueber den mathematischen Begriff des Raums. In: ebd., S. 403–419; ders.: Ueber die geometrischen Axiome. In: ebd., S. 420–430. Vgl. Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Zum hundertjährigen Jubiläum derselben. Bd. 2. Stuttgart, Berlin, Leipzig: Union/Deutsche Verlagsgesellschaft 1892, S. 93, S. 254–255, S. 537–538.7↑Dr. Jachmann ] Johann Benjamin Jachmann (1765–1832), Mediziner, studierte wie sein jüngerer Bruder und Kant-Biograph Reinhold Bernhard Jachmann ebenfalls bei Kant (NDB); vgl. Kant an Kästner vom 5.8.1790: Wohlgebohrener, Verehrungswürdiger Herr, Der Ew. Wohlgebohren Gegenwärtiges zu überreichen die Ehre hat, der Medic. Doctor, Hr. Jachmann, mein ehemaliger Zuhörer, schmeichelt sich durch meine geringe Fürbitte einige Augenblicke von Ihrer geschäftvollen Zeit abzugewinnen […] (Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant’s gesammelte Schriften Bd. 11 (2. Aufl.). Kant’s Briefwechsel. 1789–1794. Berlin/Leipzig: De Gruyter 1922, S. 186, Nr. 439). Ob Reicke bekannt war, um welchen der beiden Brüder es sich handelte, ist nicht ermittelt.8↑Lichtenberg ] Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), Naturforscher und Schriftsteller, 1767 2. Prof. für Mathematik in Gießen, 1770 ao. Prof. für Philosophie, 1775 o. Prof. für Physik in Göttingen (NDB).9↑die Antwort … 1790 ] vgl. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant’s gesammelte Schriften Bd. 11. Kant’s Briefwechsel. 1789–1794. Berlin: Reimer 1900, S. 229–231, Nr. 429; abweichende Datierung in der (nicht mehr von Reicke besorgten) 2. Aufl. auf den 2.10.1790, vgl. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant’s gesammelte Schriften Bd. 11 (2. Aufl.). Kant’s Briefwechsel. 1789–1794. Berlin/Leipzig: De Gruyter 1922, S. 213–215, Nr. 451.10↑Karl Morgenstern ] Karl Simon Morgenstern (1770–1852), Philosoph und klassischer Philologe, 1797 ao. Prof. in Halle, 1798 Prof. am Athäneum in Danzig, 1802 in Dorpat (ADB).11↑„Dörptischen … 1817) ] Digitalisat: https://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10610890-6 (19.4.2024).12↑Schubert ] Friedrich Wilhelm Schubert (1799–1868), Statistiker und Historiker, 1820 PD, 1823 ao. Prof., 1826 o. Prof. in Königsberg, gemeinsam mit Karl Rosenkranz Hg. einer Ausgabe von Kants Schriften (ADB).13↑Schubert … S. 163–164) ] vgl. Schubert, Friedrich Wilhelm (Hg.): Immanuel Kant’s Briefe, Erklärungen. Fragmente aus seinem Nachlasse (= Immanuel Kant’s Sämmtliche Werke, hg. v. Karl Rosenkranz u. Friedrich Wilhelm Schubert Bd. 11, Teil 1). Leipzig: Voss 1842. Digitalisat: https://www.google.de/books/edition/S%C3%A4mmtliche_Werke/PvABAAAAcAAJ?hl=de&gbpv=0 (19.4.2024).14↑Pörschke ] Karl Ludwig Pörschke (1752–1812), Philosoph und Literaturwissenschaftler, 1795 ao. Prof. der Philosophie, 1803 o. Prof. der Poesie, 1806 der Schönen Wissenschaften, Pädagogik und Beredsamkeit, 1809 der Praktischen Philosophie in Königsberg (BEdPh).15↑von Kästner … Tischrede ] vgl. Poerschke: Vorlesung bey Kants Geburtsfeyer, den 22sten April 1812. In: Königsberger Archiv für Philosophie, Theologie, Sprachkunde und Geschichte 1 (1811/1812), 4. Stück, S. 536–544, hier S. 539–540: Seine [Kants] Bescheidenheit gegen Gelehrte von grossem Rufe artete beynahe in Schüchternheit aus. Kästner missdeutete daher einen innigen ehrerbietigen Brief Kant’s an ihn, und erklärte sich darüber unschicklich genug gegen einen Gelehrten, wie dieser es mir schrieb. Kant’s Theologie und Religionslehre missfiel Kästnern, der den verordneten Kirchenglauben verfocht, zur Vertheidigung der Bequemlichkeit und seiner Tyranney über die Gemüther, welche er verachtete und sie nicht für werth hielt, klüger zu werden. Wie ganz anders verstand der kindliche und geistvolle Lichtenberg den Geist Kant’s; dieses legte er nicht allein in seinen Schriften dar, sondern auch in Briefen an unsern Weisen, die dieser mir mittheilte. (Wiederabgedruckt u. a. in Malter, Rudolf (Hg.): „Denken wir uns aber als verpflichtet …“. Königsberger Kant-Ansprachen 1804–1945. Erlangen: Harald Fischer 1992, S. 60–64).16↑Schubert … S. 179 ] vgl. die teils wörtlich von Pörschke übernommene Stelle in Schubert (Hg.): Immanuel Kant’s Biographie. Zum grossen Theil nach handschriftlichen Nachrichten (= Immanuel Kant’s Sämmtliche Werke, hg. v. Karl Rosenkranz u. Friedrich Wilhelm Schubert, Bd. 11, Teil 2). Leipzig: Voss 1842. Digitalisat: https://www.google.de/books/edition/S%C3%A4mmtliche_Werke/X_ABAAAAcAAJ?hl=de&gbpv=1 (19.4.2024), S. 179: Seine [Kants] Bescheidenheit gegen Gelehrte von grossem Rufe artete beinahe in Schüchternheit aus. Kästner missdeutete daher einen innigen ehrerbietigen Brief Kant’s an ihn aus dem ganz verfehlten Standpunkte einer versuchten Täuschung, und äusserte sich darüber unwürdig gegen andere Gelehrte und selbst Amtsgenossen Kant’s; aber er fand in seinem noch geistvolleren Göttinger Collegen Lichtenberg die trefflichste Widerlegung, der keine Gelegenheit vorbeiliess, von Kant mit der grössten Verehrung zu sprechen.▲