Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Ernst Dümmler, Halle, 4.3.1889, 4 S., hs., Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, NL Dümmler
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- Physical LocationBerlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, NL Dümmler
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Vaihinger an Ernst Dümmler, Halle, 4.3.1889, 4 S., hs., Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, NL Dümmler
Halle a/S.
4. März 1889.
Hochzuverehrender Herr Geh. Reg. Rath!
Empfangen Sie, verehrtester Herr Geheimer Regierungsrath, den herzlichsten Dank für Ihre Mittheilungen[1], die ich als streng vertrauliche behandeln werde. Dieselben sind für mich um so werthvoller, als ja jetzt der traurige Fall eingetreten ist, den Ihr Brief voraussagte. Man hat hier allgemein den Tod Krohns[2] mit großem Bedauern vernommen; jedermann erkennt seine seltene Begabung, sein ideales Streben, seine geistvollen Veröffentlichungen an. |
Natürlich würde ich es als ein großes Glück und als eine hohe Ehre betrachten, Nachfolger Krohns[3] zu werden. Da ich für die Stelle, welche Glogau jetzt hat[4], schon vor 5 Jahren primo loco vorgeschlagen war[5], läge es ja nahe, daß die Facultät an mich denkt. Directe Beziehungen habe ich aber nicht dahin; Glogau kenne ich nur oberflächlich[6].
Daß Herr Geh. Rath Althoff mir so wenig günstig gesinnt ist, ist mir ja natürlich sehr unangenehm; es ist mir aber sehr werthvoll, daß ich sein Urtheil über mich kenne, damit ich mir keine falschen Hoffnungen mache. Seinen Vorwurf mangelnder Productivität[7] muß ich ja allerdings anerkennen; niemand bedauert mehr als ich selbst, daß ich nicht noch mehr Arbeitskraft besitze. Ich habe in meine Vorlesungen sehr viel Kraft und Arbeit hineingesteckt, und dieselben enthalten daher manche werthvolle | Resultate selbständiger Forschung. Die Art und Weise, wie die Vorlesungen ausgearbeitet werden, sind[a] aber bei den Einzelnen sehr verschieden. Der Eine begnügt sich damit, die Resultate der Wissenschaft ohne Weiteres hinzunehmen und zu reproduciren, der Andere erarbeitet sich jene Resultate selbständig auf eigenem Wege. Jener hat natürlich mehr Zeit zu andern Arbeiten übrig, als dieser. – Warum wird denn dann derselbe Vorwurf nicht auch Stumpf gemacht, der fast ebenso lange hier[8] ist, und ebenfalls seitdem nichts veröffentlicht hat? Derselbe arbeitet eben auch langsam; der langsame Arbeiter ist darum noch nicht der schlechtere.
Was die beiden genannten Concurrenten betrifft, so ist Lipps (den ich im Herbst von Köln aus in Bonn[9] besuchte) jedenfalls als ein durchaus tüchtiger, sachlicher und auf der Höhe der Wissenschaft stehender Gelehrter anzuerkennen, der mir aber als Dozent gewiß nicht überlegen ist. Natorp ist ein sehr gelehrter | Mann, neigt aber zu Abstrusitäten[10] und hat jüngst ein ganz unverständliches Buch geschrieben („Einleitung in Psychologie“[11]). Eine „hervorragende Lehrkraft“ ist er so wenig, daß seine Mißerfolge als Dozent unter den Fachcollegen überall bekannt sind. Er weiß in einzelnen Gebieten gewiß mehr als ich, das will ich nicht abstreiten.
Übrigens werde ich jetzt auf alle Fälle die Kantarbeit[12] wieder aufnehmen, um das angefangene Werk fortzusetzen und zur Vollendung zu bringen. Da ich die Hauptvorlesungen[13] fertig habe, wird mir dies möglich sein.
Haben Sie, verehrter Herr Geh. Rath, nochmals den herzlichsten Dank für alle Ihre Mittheilungen, welche mir sämtliche sehr interessant waren, und für das mir damit aufs Neue bewiesene gütige Wohlwollen, das ich mir auch fernerhin zu bewahren bitte.
Indem ich mich Ihnen, sowie Ihrer verehrten Frau Gemalin[14] bestens empfehle, bin ich Ihr dankbar ergebenster
H. Vaihinger.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑Tod Krohns ] August Krohn (1840–1889), 1875 in Halle für Philosophie habilitiert, 1881 ao. Prof., 1884 o. Prof. Kiel, war am 27.3.1889 während einer Urlaubsreise gestorben (https://www.catalogus-professorum-halensis.de/krohnaugust.html (20.8.2024)).3↑Nachfolger Krohns ] weder Vaihinger noch z. B. Georg Simmel kamen auf die Kieler Nachfolgeliste, wie Gustav Glogau am 14.5.1889 an Heymann Steinthal berichtete: Wir haben [David] Peipers [1838–1912, Prof. in Göttingen], Natorp, Deussen pari passu, und Tönnies an zweiter Stelle dem Minister genannt (Ingrid Belke (Hg.): Moritz Lazarus und Heymann Steinthal. Die Begründer der Völkerpsychologie in ihren Briefen Bd. 2,1. Tübingen: Mohr (Siebeck) 1983, S. 275). Berufen wurde Paul Deussen (BEdPh).4↑welche Glogau jetzt hat ] in Kiel als Nachfolger für Benno Erdmann, der nach Breslau versetzt wurde, bevor er 1890 nach Halle kam, vgl. Vaihinger an Bartholomäus von Carneri vom 11.5.1884.6↑Glogau kenne ich nur oberflächlich ] von mindestens einer Begegnung im Frühjahr 1879 in Straßburg her, vgl. Gustav Glogau an Heymann Steinthal vom 13.5.1879 aus Zürich (abgedruckt in: Ingrid Belke (Hg.): Moritz Lazarus und Heymann Steinthal. Die Begründer der Völkerpsychologie in ihren Briefen Bd. II/1. Mit einer Einleitung. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1983, S. 84).9↑in Bonn ] Theodor Lipps (1851–1914), 1874 in Bonn promoviert, 1877 dort habilitiert, 1884 zum Professor ernannt, ging 1890 nach Breslau, 1894 nach München (BEdPh).10↑neigt aber zu Abstrusitäten ] vgl. die Schreiben Vaihingers an Friedrich Zarncke von April–Juni 1883.11↑„Einleitung in Psychologie“ ] vgl. Natorp: Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode. Freiburg i. B.: Mohr (Siebeck) 1888.12↑Kantarbeit ] vgl. Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, 2 Bde. 1881/1882 u. 1892.13↑die Hauptvorlesungen ] Vaihinger las im SS 1889 in Halle: Psychologie, privatim. Über das empirische Verhältniß von Leib und Seele, publice.▲