Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Eduard von Hartmann, Halle, 28.12.1888, 7 S., hs., Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Nachlass Eduard von Hartmann
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- Physical LocationWürttembergische Landesbibliothek Stuttgart, Nachlass Eduard von Hartmann
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Vaihinger an Eduard von Hartmann, Halle, 28.12.1888, 7 S., hs., Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Nachlass Eduard von Hartmann
Halle a/S.
28.XII.88
Verehrter Herr!
Indem ich an die vor 12 Jahren bestandenen Beziehungen[1] mit Ihnen, hochverehrter Herr, anzuknüpfen mir gestatte, bin ich so frei, Ihnen anbei eine kleine Schrift[2] zu übersenden, deren Thema Sie interessieren[a] muß, da Sie über denselben Gegenstand schon mehrfach sich geäußert haben: die Gymnasialfrage. Unter Ihren Schriften war mir immer eine der liebsten die kleine Schrift: „Zur Reform des höheren Schulwesens“[3], deren warmes Eintreten für die klassischen Studien mich sympathisch berührte, und in Ihren „Modernen Problemen“[4] haben Sie mit Recht darauf | hingewiesen, daß die von Ihnen damals aufgestellten Forderungen von dem „Einheitsschulverein“ aufgenommen worden sind, dessen Mitglied auch ich bin. Es freut mich sehr, mit Ihnen auf diesem Boden zusammenzutreffen, und in diesem Sinne glaube ich auch Ihrer Zustimmung zu der allgemeinen Tendenz meines Vortrages sicher zu sein, das Gymnasialprincip gegen die neuesten Angriffe von Preyer auf dasselbe zu vertheidigen.
Wie aber denken Sie über den Weg, den ich zu diesem Zweck eingeschlagen habe? Ich möchte gerne annehmen, daß Sie mir beistimmen, daß dieser Weg ein gangbarer und vielversprechender ist. Noch im letzten Augenblick der Drucklegung fand ich zu meiner großen Befriedigung, daß Sie in Ihrem Werke über „das sittliche Bewußtsein“[5] denselben Gedanken mehrfach deutlich ausgesprochen haben, und so konnte ich | noch im Nachtrag auf der letzten Seite, mich auch auf Sie berufen. Da derselbe Gedanke auch in der von Ihnen hochgestellten Hegel’schen Philosophie scharf ausgesprochen worden ist (vgl. S. 10. 29. 35/6) und sich überhaupt in der deutschen idealistischen Philosophie vielfach wiederfindet, so werden Sie dem Princip schwerlich unsympathisch gegenüberstehen, umso weniger, als dasselbe in Ihr eigenes philosophisches System leicht einzufügen ist, ja als eine Consequenz aus demselben sich ergibt: eben das Princip, daß die Entwicklung der des Einzelnen nur dann eine vollendete ist, wenn in ihr die Entwicklung der Ganzen Menschheitscultur im Auszug wiederholt wird. Ja ich möchte glauben, daß Sie selbst das Princip, das in der Schrift über das sittliche Bewußtsein zunächst nur auf die ethische | Entwicklung angewendet ist, auch an andren Stellen Ihrer Werke noch allgemeiner ausgesprochen haben, obgleich mir im Augenblick keine Belegstellen dafür zu Gebote stehen.
Die von mir gesammelten Citate aus allen möglichen Schriftstellern beweisen jedenfalls, daß diese in der deutschen idealistischen Philosophie zuerst mit voller Klarheit aufgestellte Idee nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen ist und eine Berücksichtigung erfordert.
Die Anwendung, die ich davon auf das Studium der klassischen Sprachen gemacht habe, wird ebenfalls, wie ich gerne annehmen möchte, Ihre Billigung finden, da Sie ja selbst so energisch für die klassischen Studien eingetreten sind. |
Die[b] darwinistische Grundlegung wird bei Ihnen gewiß keinen Anstoß erregen, umso weniger, als ja dieselbe nicht hindert, tiefere metaphysische Gründe aufzustellen. Die starke axiologische Färbung meines Vortrages war geboten und zweckmäßig vor Naturforschern, auf deren Boden man sich stellen muß, wenn man mit ihnen fertig werden will. Daß man auf so verschiedenen Wegen – dem darwinistischen, philosophischen, pädagogischen und selbst theologischen – zu demselben Princip gelangen kann, scheint mir ein günstiger Beweis für dasselbe zu sein.
Ich würde mich daher ungemein freuen, wenn Sie fänden, daß ich im Allgemeinen hier etwas | Richtiges ausgesprochen habe, selbst wenn Sie im Einzelnen vieles nicht billigen können.
Dazu füge ich den natürlichen Wunsch, Sie möchten, falls Sie an meinem Schriftchen einigen Gefallen finden, demselben, vielleicht in der „Gegenwart“ eine Besprechung[6] widmen. Freilich möchte ich nicht, daß Sie mich, wie früher einmal[7], unbarmherzig zerreißen möchten, das möchte ich in diesem Falle nicht um der Sache willen, der es wohl schaden würde, wenn Sie meine Schrift ganz verwerfen würden. Würden Sie derselben gar keinen Geschmack abgewinnen können, dann möchte ich natürlich nicht, daß Sie dieselbe besprechen. Wenn Sie aber finden, das mit meinem | Vortrag eine richtige Saite angeschlagen ist, dann wäre mir eine Besprechung durch Sie eine hochwillkommene Ehre.
In vollkommener Hochachtung Ihr ergebenster
H. Vaihinger.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑eine kleine Schrift ] vgl. Vaihinger: Naturforschung und Schule. Eine Zurückweisung der Angriffe Preyers auf das Gymnasium vom Standpunkte der Entwicklungslehre. Ein Vortrag in der dritten allgemeinen Sitzung der 61. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Köln am 22. September 1888 gehalten. Köln/Leipzig: Albert Ahn 1889.4↑Ihren „Modernen Problemen“ ] vgl. Eduard von Hartmann: Moderne Probleme. Leipzig: Friedrich 1885 (2., vermehrte Aufl. 1888); darin: 8. Zur Reform des Universitätsunterrichts; 9. Das Philosophie-Studium auf den Universitäten; 10. Die Ueberbürdung der Schuljugend; 11. Die preußische Schulreform von 1882; 12. Der Streit um die Organisation der höheren Schulen.5↑Werke über „das sittliche Bewußtsein“ ] vgl. Eduard von Hartmann: Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins. Prologomena zu jeder künftigen Ethik. Berlin: Duncker 1879. 2. Aufl. u. d. T. Das sittliche Bewußtsein. Eine Entwicklung seiner mannigfaltigen Gestalten in inneren Zusammenhange mit besonderer Rücksicht auf brennende soziale und kirchliche Fragen der Gegenwart. Leipzig: Friedrich 1886.6↑eine Besprechung ] vgl. Vaihinger an Eduard von Hartmann vom 5.1.1889 sowie Eduard von Hartmann: Neue Schriften zur Schulreform. In: Die Gegenwart, Nr. 9 vom 2.3.1889, S. 137–138.▲