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- TitleVaihinger an Eduard Zeller, Halle, 27.6.1884, 4 S., hs., Universitätsbibliothek Tübingen, http://idb.ub.uni-tuebingen.de/opendigi/Md747-782
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Vaihinger an Eduard Zeller, Halle, 27.6.1884, 4 S., hs., Universitätsbibliothek Tübingen, http://idb.ub.uni-tuebingen.de/opendigi/Md747-782
Halle a/S. den 27. Juni 1884.
Hochzuverehrender Herr Geheime Rath, verehrtester Herr Professor![a]
Obgleich Sie vermuthlich schon aus anderen Quellen über die hiesigen Vorschläge zur Besetzung der Ulrici’schen Professur[1] Nachricht erhalten haben, möchte ich Ihnen doch darüber Mittheilung machen: primo loco ist Windelband vorgeschlagen, sekundo Stumpf in Prag[2]; sodann als Extraordinarius Lipps in Bonn. An die Berufung Windelbands ist wohl nicht zu denken; Herr Geh[eime] R[at] Althoff hat bei seinem Hiersein geäußert (mehrfach auch mir gegenüber,) daß er dies „mit mathematischer Sicherheit vorher|sagen[“] könne. Stumpf, welcher gerne kommen würde, ist katholisch, doch soll dies in diesem Falle kein Hinderniß[3] bilden, da Althoff als einen der Regirung genehmen Candidaten auch Riehl in Freiburg genannt habe. Sehr gern wären auch Avenarius, Laas, auch Siebeck in Vorschlag gekommen.
Daß unser Landsmann Karl Müller[b] in Berlin[4] hier vorgeschlagen ist, hat mich herzlich erfreut.
Ich bin nun hier schon in voller Thätigkeit und darf mit dem Besuch meiner Vorlesung sehr zufrieden sein. Da ich auch Mitglied der Examenscommission geworden bin, und da hier der Zudrang der Examinanden sehr stark[5] ist, so habe ich gerade damit sehr viel zu thun. Es werden hier, | um mit den Restanten aufzuräumen, in außerordentlicher Weise jetzt in jeder Woche 4–5 einberufen (abgesehen von den Nachprüfungen); außer mir ist noch Haym in der Commission.
Was die einfachere Formulirung[6] betrifft, welche Sie, hochzuverehrender Herr GeheimeRath, für das Verhältnis von empirischem Object und empirischem Subject vorziehen, so erlaube ich mir darüber Folgendes zu bemerken: dieselbe scheint mir sehr wohl möglich, wenn man blos Stellen im Auge hat, wie diese: „man kann beweisen, daß selbst unsere innere … Erfahrung nur unter Voraussetzung äußerer Erfahrung möglich sei.“ (Kehrb[ach] 208 unten[7]). Auch könnte man zunächst den folgenden Lehrsatz nebst Beweis dafür auslegen, wie die einfachere Formel sagt: „unsere empirische Subjectivität sei dadurch bedingt, daß das transzendentale Object als Grund unserer | Empfindung, sich uns unter der Gestalt einer äußeren Erscheinung eines Gegenstandes im Raume darstelle.“
Allein inwiefern wäre dann das eine Widerlegung des empirischen Idealismus des Berkeley? inwiefern also ein Beweis, daß „Gegenstände außer uns im Raume“ da sind? das wäre immer noch blos die „Vorstellung eines Dinges außer mir“, aber nicht ein „Ding außer mir“?
Ferner wie sollten dann die von mir S. 150 ff angeführten Stellen ausgelegt werden? Zwingen diese nicht doch zur Annahme einer empirischen Affection im eigentlichen Sinne?
Und endlich, abgesehen von diesen (in der These I und II formulirten)[c] interpretatorischen Differenzen, wie entgeht man der (S. 140 ff. und in der These III zusammengefassten) logischen Consequenz, zu welcher man, wie ich noch immer glauben möchte, absolut genötigt ist?
Indem ich Sie, hochzuverehrender Herr GeheimeRath bitte, diese bescheidenen Einwände Ihrer Erwägung zu unterziehen, zeichne ich in dankbarer Verehrung Ew. Hochwohlgeboren ganz ergebenster
H. Vaihinger
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑sekundo Stumpf in Prag ] Carl Stumpf (1848–1936), seit 1.10.1879 an der damals noch geeinten Universität Prag, zum 1.10.1884 nach Halle berufen, 1889 nach München (Helga Sprung: Carl Stumpf – Eine Biographie. Von der Philosophie zur Experimentellen Psychologie. Unter Mitarbeit von L. Sprung. München/Wien: Profil 2006, S. 115–118, mit Briefzitaten; BEdPh).3↑in diesem Falle kein Hinderniß ] vgl. zum Kontext Ulrich Jahnke: Promotor des Fortschritts!? Friedrich Althoff und die deutsche Universitätspsychologie. In: Bernhard vom Brocke (Hg.): Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das „System Althoff“ in historischer Perspektive. Hildesheim: Lax 1991, S. 319–320: Noch im gleichen Jahr folgte mit der Berufung von Carl Stumpf an die Universität Halle die erste Berücksichtigung eines Vertreters der Psychologie-Philosophie unter Althoff. Nachdem der Hallenser Philosoph Hermann Ulrici 1884 gestorben war, kommentierte der Kurator der Universität Halle die Vorschläge der Philosophischen Fakultät folgendermaßen: „Die Fakultät scheint selbst zu besorgen, daß sich eine Berufung des an erster Stelle vorgeschlagenen Professors Windelband in Straßburg nicht durchführen lasse und wünscht demnach mit besonderem Nachdruck den Professor Stumpf in Prag, welcher allerdings wegen seiner besonderen Lehrgabe als ein Schüler Lotze’s eine sehr erwünschte Ergänzung des hiesigen Lehrkörpers bilden würde.“ Der Kurator hob ferner hervor, daß Stumpf katholischer Konfession sei. Althoff interessierte vor allem dies und er bat wiederum Dilthey um eine Einschätzung Stumpfs. Dilthey schrieb am 3. Juli 1884 […]. Bezeichnend für Diltheys Berücksichtigung der politischen Lage, die durch eine Aufgabe der antiklerikalen Grundsätze des Kulturkampfes gegen die Zentrumspartei gekennzeichnet war, sind Hinweise zu Stumpfs religiösem Standort: „Als Katholik geboren ist er doch in diesen religiösen Überzeugungen nicht confessionell gefärbt. Seine Kinder hat er evangelisch taufen und erziehen lassen. So möchte gerade seine Berufung im Einklang mit einer weitherzigen und doch zugleich von religiösem Ernst getragenen Handhabung der Statuten von Halle Wittenberg sein. Sie würde auch den katholischen Kreisen ein Beweis in dieser Richtung sein.“ Letzteres scheint für Althoff ausschlaggebend gewesen zu sein, da er mit Stumpf Verhandlungen führte. Dieser akzeptierte die gebotenen Bedingungen, wurde am 16. August 1884 nach Halle berufen und teilte Althoff bei dieser Gelegenheit mit, er werde sich in Halle einführen „… mit Psychologie oder einem mehrstündigen Colleg psychologischen Inhalts“; sowie rückblickend Stumpf: Erinnerungen an Franz Brentano. In: O. Kraus (Hg.): Franz Brentano. Zur Kenntnis seines Lebens und seiner Lehre. München: C. H. Beck 1919, S. 139: Auch kann ich nicht leugnen, daß mir gerade die Berufung an die Universität Halle-Wittenberg, deren Statuten nicht-protenstantische Lehrkräfte prinzipiell ausschließen, nach früheren Erfahrungen, über die ich hier schweigen will, eine besondere Genugtuung und Freude bereitete.4↑Karl Müller in Berlin ] Karl Ferdinand Friedrich Müller (1852–1940), protestantischer Theologe und Kirchenhistoriker, geb. in Langenburg/Württemberg, Studium am Tübinger Stift (1870–1874, 8.8.1876 in Tübingen promoviert) und Göttingen, 1880 in Berlin promoviert und habilitiert, 1882 ao.°Prof. in Berlin, 1884 in Halle, 1886 o.°Prof. Gießen, 1891 Breslau, 1903 Tübingen, 1922 emeritiert (https://www.catalogus-professorum-halensis.de/muellerkarlferdinandfriedrich.html (9.8.2024); https://www.leo-bw.de/web/guest/detail/-/Detail/details/PERSON/kgl_biographien/138219885/biografie (9.8.2024)).5↑Zudrang der Examinanden sehr stark ] Die Universität Halle-Wittenberg war v. a. Ausbildungsstätte protestantischer Geistlicher und Beamter für Preußen.6↑einfachere Formulirung ] im Zusammenhang mit der Diskussion über Vaihingers Aufsatz: Zu Kants Widerlegung des Idealismus, vgl. Vaihinger an Zeller vom 29.4.1884 sowie Zeller an Vaihinger vom 6.6.1884.7↑Kehrbach 208 unten ] Vaihinger zitiert Kant: Kritik der reinen Vernunft; Widerlegung des Idealismus nach der Ausgabe von Karl Kehrbach (Leipzig: Reclam; https://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb11171606-1 (9.8.2024)).▲