Bibliographic Metadata
- TitleHermann Siebeck an Vaihinger, Gießen, 10.5.1884, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 6 a
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 6 a
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Hermann Siebeck an Vaihinger, Gießen, 10.5.1884, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 6 a
Giessen d. 10.5.84.
Verehrter Herr Kollege,
Meine Frau[1], wie auch ich, dankt Ihnen herzlich für das freundliche Andenken, mit dem Sie sie erfreut haben, auch für unsere Kinder ist dasselbe eine angenehme Veranlassung zur Erinnerung an den bei ihnen im besten Gedächtniß stehenden Besuchgenosse[2]. Ganz besonders aber danke ich Ihnen für Ihre höchst interessante Abhandlung[3], die ich mit zunehmender Spannung in einem Zuge durchgearbeitet habe. In der Exposition des Sachlichen wüßte ich in der Hauptsache nichts, was gegen die bündigen Nachweise in derselben vorzubringen wäre; nur Ihre Auffassung der beiden Fäden als von Kant[a] selbst unbemerkt gebliebener Widersprüche macht mir Bedenken. Es war mir bisher schon klar geworden, daß K[ant] den Schwerpunkt seines Werkes darin setzt, zu zeigen, daß er nicht | trotz[b] sondern gerade[c] wegen[d] seines transcendentalen Idealismus zugleich empirischer Realist zu sein berechtigt und genöthigt sei; ich bin ganz entschieden der Meinung, daß z. B. die Stellen, die Sie aus 1. Aufl. S. 375–77 (S. 50 f. Ihrer Abhandlung) zunächst weggelassen, um sie nachher (S. 53) nachträglich als dem Übrigen[e] widersprechende Bestandtheile dem Leser vor Augen zu stellen, – daß diese, nach K[ant]’s bewusster An- und Absicht, dem Sinn der ganzen Stelle nicht nur nicht widersprechen (obwohl sich K[ant], wie gesagt, dieses Scheines des Widerspr[uches] jedenfalls wohl bewußt war), sondern ihn erst completiren und zu dem machen, was er sein soll. Wäre der Sachverhalt wirklich so, wie Sie ihn S. 50–53 auffassen, so hätte Bolliger mit seinem Urtheile[4] über K[ant]’s Befähigung Recht. Das Problem für die Erklärung der Kr[itik] d[er] r[einen] V[ernunft] liegt für mich darin, den Grundgedanken zu treffen, von dem aus K[ant] mit festem Blick diesen anscheinenden Widerspruch nicht nur als solchen (mit Bewußtsein) schuf sondern auch wieder beseitigte. Sollte nicht in den Interpretationen der Kr[itik] etc.[f] von Cohen[g] und Stadler[h] etwas zur Lösung dieses Problems geschehen sein? Die beiden Stellen, die Sie am Fuß von Seite 47 vergleichen, widersprechen | sich m. E. nicht; in der links ist Vorstellung im „transcendentalen“ Sinn genommen; rechts dagegen im (angebl[ich])[i] Berkeleyschen (= „bloße Einbildung“); links ist die synthetische Thätigkeit der transc[endentalen] Appercept[ion] schon miteingeschlossen, rechts ist (wie es bei Berkeley der Fall war) von derselben keine Rede.[j]
Was ich also behaupte, ist dieses: K[ant] begeht nicht wider Wissen und Willen einen Widerspruch sondern er hält und setzt die anscheinend widersprechenden Glieder mit Bewußtsein für zu vereinigende, und dadurch kann man über die frühen (vorkantischen) Gegensätze und Standpunkte hinaus. Daneben gebe ich zu, daß die dadurch in K[ant] hervorgerufene Gedankenbewegung in ihm selbst nie vollständig zur Ruhe gekommen ist und (wie Sie sehr überzeugend weiterhin ausführen) ihn später mehr gegen den Fichte’schen Standpunkt hingetrieben hat. Derartiges passirt eben in jedem philosophischen System.
Es freut mich sehr, von Ihrem guten Erfolge in dem neuen Wirkungskreise zu lesen. Möge das alte, ebenso höfliche wie gemüthliche Halle Ihnen bald ebenso lieb werden, wie es mir jederzeit[5] gewesen und geblieben ist. Mit dem neuen Semester hier i[n] G[ießen] bin ich zufrieden; im Hauptcolleg (Psychol[ogie]) habe ich etwa 60 Zuhörer. | Die kleineren specielleren Sachen, an die die Leute hier in der Philosophie gar nicht gewöhnt waren, sind ebenfalls mit leidlicher Betheiligung zu Stande gekommen, zu welchem allem man hier augenblicklich noch mit etwas Verwunderung dreinschaut. Wenn übrigens alle Wegberufungen von hier, die für den Augenblick wenigstens möglich erscheinen, sich im Lauf dieses Semesters realisiren sollten, so dürfte das Aussehen der Universität zu Michaelis[6] sich erheblich verändern.
Die Meinigen, wie auch ich, befinden sich wohl und lassen Sie herzlich grüßen. Ich schließe mich dem an und verbleibe Ihr freundschaftlich ergebener
H. Siebeck.
Kommentar zum Textbefund
j↑Rede. ] danach von Vaihingers Hd. eingefügt: Kant hat diesen Widerspruch m. E. nicht mit Bewußtsein von Anfang an aufgestellt, wie S[iebeck] meint. Wohl aber mag er zum Bewußtsein desselben (resp. seiner Lösung) im Laufe der Zeit gekommen sein.Kommentar der Herausgeber
3↑Abhandlung ] vgl. Vaihinger: Zu Kants Widerlegung des Idealismus. In: Strassburger Abhandlungen zur Philosophie. Eduard Zeller zu seinem siebenzigsten Geburtstage. Freiburg i. Br./Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1884, S. 85–164.4↑Bolliger mit seinem Urtheile ] vgl. Adolf Bolliger: Anti-Kant oder Elemente der Logik, der Physik und der Ethik. Bd. 1. Basel: Schneider 1882.▲