Bibliographic Metadata
- TitleWilhelm Bolin an Vaihinger, Helsingfors (Helsinki), 29.3.1884, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 3 d
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 3 d
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Wilhelm Bolin an Vaihinger, Helsingfors (Helsinki), 29.3.1884, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 3 d
Helsingfors, März 29, 1884.
Hochgeehrter Herr Doktor.
Vor genau einer Woche erhielt ich Ihren freundlichen Brief[1] und die darin angekündigte Sendung[2]. Für beides sage ich Ihnen meinen verbindlichsten Dank, ebenso für Ihre gütige Aufforderung, die Ergebnisse meiner philosophischen Kathederthätigkeit schriftstellerisch nutzbar zu machen. Wohl giebt es da Studien und Aufzeichnungen die Menge. Aber ich bin mittlerweile der Sache selbst so entfremdet, dass ich mir förmlich Gewalt anthun müsste um auf diesem Gebiet wieder heimisch zu werden. Was mir s[einer] Z[eit] als eine lockende Aufgabe vorschwebte, ist indessen durch Sie zur Ausführung gelangt. Als ich noch akademisch thätig war, hatte ich mir vorgenommen zum Säkulargedächtnis[a] der Krit[ik] d[er] reinen Vernunft[b] ein grösseres Werk „Kant u[nd] das Grundproblem d[er] Philosophie“ zu schreiben.[c] | Das Wesentliche davon ist nun durch Sie geschehen und zwar in einer Weise, zu der ich Ihnen von Herzen Glück wünsche. Möchte Ihnen das Fortführen und das Abschliessen Ihres hochverdienten Unternehmens baldigst gelingen. Wenn ich meinestheils von dieser Aufgabe zurückgetreten, so liegt das sowohl an den Umständen, die mich anderweitig in Anspruch genommen[3] und wo ich die vollste Befriedigung finde, als auch an dem persönlichen Widerwillen, den mir gewisse Erscheinungen in der neuern Philosophie eingeflösst, und die ich, nach der Art, wie ich damals die Aufgabe hatte lösen wollen, nicht gut hätte umgehen können. Ich will Ihnen, der mir ein so wohlwollendes Entgegenkommen gezeigt, nicht verhehlen, dass besagter Widerwille vornehmlich durch den wissenschaftelnden Hexensabbath verursacht worden, den der Urheber[4] der sogenannten[d] Philosophie d[es] Unbewussten ein volles Jahrzehnt hindurch aufrecht zu halten vermochte. Es bedarf einer weitaus polemischer beanlagten[e] Natur als meine Wenigkeit um sich mit diesem Kram abzugeben. Mir wurde das Treiben einfach unerträglich, und da ich zudem, je | länger je mehr, der dramatischen Poesie und entsprechenden Studien zugeführt ward[f], die für mich den Zauberwerth einer ersten Liebe haben, sehe ich mich nunmehr ausser Stande an der Philosophie schöpferisch mit Hand anzulegen. Ob dies ein Unrecht gegen meine Beanlagung[g] ist, wüsste ich nicht zu sagen; sicher aber fühle ich mich frei von jeglicher Reue über mein gegenwärtiges Verhältniss zur Philosophie, das lediglich dasjenige eines vielleicht nicht ganz urtheilslosen Beschauers geworden. Aber mit dieser Parteilosigkeit hat sich eine gewisse Skepsis bei mir eingestellt, wodurch mein Interesse für viele Fragen der Philosophie äusserst begrenzt worden. Einstweilen begnüge ich mich mit meiner literarischen Thätigkeit und mit dem Nutzen, den ich zunächst hierorts stiften kann. Übrigens muss ich noch hinzufügen, dass meine Entfernung von philosophischer Schriftstellerei auch noch durch die Ungunst gefördert wurde, die ich seitens nöthiger Verlagsaussichten[h] gefunden. Vielleicht sagte ich Ihnen schon in meinem vorigen Brief[5], und solchenfalls entschuldigen Sie gütigst diese wie auch etwa sonstige[i] Wiederholung, dass ich noch vor dem totalen Übertritt zur Schönliteratur[j] zwei Versuche gemacht, meine | Beziehungen zur Philosophie durch entsprechende Schriften ferner aufrecht zu halten. Zum Spinoza-Jubiläum[6] hatte ich eine Umarbeitung seines Tract[atus] theo[logico-]polit[icus] (etwas in der Art von Straussens Wiedergabe[7] des Werkes von[k] Reimarus) nebst allgemeiner Charakteristik vorbereitet. Ich bekam Körbe von allen Seiten, wo ich mich hinwandte; nur von einem Verleger das Angebot des geschäftl[ichen] Betriebs, falls ich die Druckkosten tragen wollte. Genauso erging es mir mit einer kritischen Darstellung des Pessimismus, die ich nicht mehr zu Ende führen mochte als ich einsah, dass es der Liebe Müh umsonst war. Es liegt dieser Misserfolg zum Theil wohl auch an meiner riesigen Entfernung von dem buchhändlerischen Betriebe der Philosophie. Sicherlich ist mir aber alle Lust vergangen, es noch ferner mit derlei zu versuchen. Desto lebhafter wünsche ich Ihnen und Ihren Gesinnungsgenossen allen Erfolg. Zu den Letzteren gehört wohl auch Alois Riehl, dessen hochbedeutendes[l] Werk ich bisher noch keine Zeit gefunden zu lesen. Sollten Sie Zeit und Vergnügen finden darüber und betreffs Ihrer eigenen Thätigkeit sich brieflich ferner zu äussern, werden Sie damit in hohem Grade erfreuen Ihren aufrichtig ergebenen
Wilh. Bolin
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑Sendung ] dem Zusammenhang nach von Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Zum hundertjährigen Jubiläum derselben. Bd. 1. Stuttgart: W. Spemann 1881/1882.3↑anderweitig in Anspruch genommen ] Wilhelm Bolin (1835–1924), 1864 an der Universität Helsingfors promoviert, seit 1865 dort Dozent der Philosophie, 1869 oder 1870 ao. Prof. (wechselnde Angaben), nach Rücktritt vom Lehramt 1873–1912 Bibliothekar an der Bibliothek der Universität, veröffentlichte literaturwissenschaftliche Studien und leitete 1883–1887 unter Einsatz eigener finanzieller Mittel das Schwedische Theater Helsingfors (WBIS).7↑Straussens Wiedergabe ] vgl. David Friedrich Strauß: Hermann Samuel Reimarus und seine Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Leipzig: Brockhaus 1862.▲